aus "Aufbruch nach Norden"

Prolog

Sie betrat den schwarzen Strand mit glühenden Augen. Ihr Blick richtete sich in die Ferne der Welt, die schweigend vor ihr lag. Sie hatte die letzte Insel am Rand des Diesseits betreten und in eben diesem Augenblick wusste sie, dass sie heimgekehrt war zu den Geschichten ihrer Vorfahren. Sie war die Letzte der Rabenpriesterinnen in der alten Heimat gewesen. Doch jenes Land, in dessen kalter Erde die Gebeine ihrer Ahnen ruhten, war ihr geraubt worden. Hier nun sollte sie sich auf die Suche machen nach ihm, der sich seit Jahrtausenden der Welt verweigerte. Sie stockte und sah vor ihrem inneren Auge, was hier geschehen war, Äonen bevor ein Mensch seinen Fuß auf dieses Land gesetzt hatte.

Sie sah ihn, der seines Lebens überdrüssig war und nun in die unbewohnten Länder im hohen Norden hastete, um eine Heimstatt zu finden, die im gefiel und die den anderen, vor denen er sich zurückzog, unbekannt war. Er war getrieben und suchte rastlos nach dieser Heimat, und als er sie doch nirgends finden konnte, schrie er seine Enttäuschung aus sich heraus und riss dabei die Erde, die sich unter ihm befand, in breiten Spalten auf.
Das Feuermeer des Erdinneren brach die feste Krume der Welt. Glut und Hitze drängten durch diesen Spalt flüssige Erde auf den Meeresboden hinaus, der finster und in Dunkelheit erstarrt unter den Gestaden der Welt lag. Dort setzte sich die wandernde, fließende Krume seufzend im Eismeer am Weltende fest. Im Rausch der Zeit wuchs das Land zu einer Insel empor, die sich wütend zischend am Ende der Tage aus dem tosenden Meer erhob und sich seinem Blick gegenübersah, der über der Insel ruhte. Es trafen sich Feuer und Wasser und Luft und Erde. Von seinen Fesseln befreit drang das erlöste Land in seinen Willen vor und erkundete seine Wünsche, weil es nicht wusste, was es werden sollte.
So formte sich willig aus dem geschmolzenen Fels und der Eiseskälte des Nordmeeres die heile Welt, nach der er sich verzehrte. Berge, Vulkane und Höhlen wuchsen auf dem erstarrten Untergrund empor und fesselten das Regenwasser in wilden, ungezähmten Flüssen und tiefen Seen, die sich an den Hängen der Gebirge in eisige Gletscher und tiefe, eisdurchfrostete Schneeberge verwandelten.
Wie seine besänftigte Seele schliefen die Eispanzer der Insel Jahrtausende lang, bis sich ein grummelndes Murren durch den Fels zog und sich das Feuer der Erde aus dem Mittelpunkt erhob und in den festen Kratern der unzähligen Vulkanberge mächtig nach oben drängte. Geschmolzenes Gestein drückte zu feuriger Glut verwandelt durch die Krater der Vulkane und ergoss sich in donnernden Kaskaden über das ewige Eis, das ruhend die Insel in seinem frostigen Bann hielt. Als wollte Feuer Eis besiegen, rann die zähflüssige Lava wie ein rotglühender Strom die Berge hinab und schmolz auf dem Weg zum Meer die festen Eispanzer hinweg. Sie jagte das verschwundene Eis der erstarrten Seen in die Flussbetten und ließen die Wasserläufe über die Ufer quellen und die ewigen Wasserfälle sprengen. Die Insel geriet in den jungen Tagen ihres Lebens in wilden Aufruhr, der sich im ständigen Widerstreit der Hitze und des Eises zeichnete.
Als die Jahrtausende des Kampfes auf der Insel entschieden waren und sich die Glut mit dem Eis einrichtete, fingen die fruchtbaren Ebenen an sich zu bewalden. Grüne Wälder wuchsen bis zur ewigen Kälte der himmelhohen Gebirge empor. Spärliche, grüne Zipfel niedrigen Gebüsches, das sich ihnen anschloss, wurden dicht am Himmelsrand zu versprengten, grünbraunen Grassoden, die sich an die nackten Felsen klammerten. In kümmerlicher Blütenpracht versuchten sie Farbe in die ewige, blaugraue Kälte des steinigen Gebirges zu zaubern. Dort angeduckt endete die fruchtbare Landschaft der Insel und er, der zum ersten Mal die eisige Welt des von ihm entfachten Wunders betrat, war zufrieden mit dem, was seine Gedanken erschaffen hatten. Er sah bis weit nach unten zum Meer, das sich mit seinem schwarzen Strand aus gemahlener Lava von allen Stränden der Welt abhob.
Als er die Welt, die er erschaffen hatte, für sich vereinnahmte, beruhigten sich die Naturgewalten endlich und die fruchtbare Erde der Insel lag erwartungsvoll in der Sommersonne, die ewig schien am Rande des Kalalit, des Weltenendes. Unablässig leuchtete im Sommer die Sonne auf das urbare Land hernieder und gebar Tiere und Pflanzen, die sich vermehrten und die Welt besiedelten. Bär, Wolf, Hirsch und Eber belebten die dichten Wälder der Insel und Schafe, Kleintiere und Vögel besiedelten die Wiesen und den Rand der Klippen des Meeres. Die Höhlen, die geschaffen worden waren aus dem Kampf des Feuers mit der Kälte, beheimateten das Schattenvolk, das sich dort wohlfühlte. Es war ihm aus der alten Zeit gefolgt und breitete sich zielstrebig über die Insel aus und nahm Land, wo es ihm gefiel. Das Land war noch ungestört vom Menschen, der dem Schattenvolk die Natur in anderen Teilen der Welt streitig machte.
So wuchs das Schattenvolk unbeirrt und mit ihm seine Freude in seinem ureigensten Land. Er ließ sich nieder und vergaß endlich die belebten Gestade des Südens und die Enttäuschungen, die er dort erlebt hatte.
Hier, in der Einsamkeit des Nordens, gefiel ihm sein Leben wieder. Und wenn in der ewigen Nacht des Winters das spärliche Licht der Sonne hinter dem Horizont, an der Grenze des Kalalits, verschwunden war, zauberten seine Gedanken ein wildes Farbenspiel aus feinsten Wolken und federhaften Gespinsten an den Himmel. So verkürzte er sich die Zeit, bis die Sonne nach einigen Monaten wieder über den Horizont kroch, um dem in eisigen Schlaf verfallenen Land das betriebsame Leben zurückzugeben. Die Tiere des Landes erwachten aus der Winterstarre. Sie krochen aus den heißen Höhlen hervor, die ihnen Unterschlupf vor der knarrenden Kälte gewährt hatten, und sprangen freudig, die Sonnen im Rücken, über die endlosen Weiten des unbewohnten Landes.

Sie schloss die Augen, atmete die frische Luft ein und war für Minuten eins mit dem Land, das sie betreten hatte. Sie fühlte und sah seine Geburt und wusste, sie war am rechten Ort angelangt. Sie wusste, das Schicksal aller Priesterinnen des Rabenordens würde sich durch sie erfüllen. Und sie spürte die Verwirrung des Landes und seine Entschlossenheit, seinen Einklang zu bewahren.

Alanas Zorn

„Seht zurück, drei feindliche Schiffe verfolgen uns!“, gellte die Stimme des Schiffsführers über die Köpfe der Reisenden hinweg. Björn Helgison lief zum Heck des Schiffes und sah über die stille See, die glatt und blau vor ihm lag.
„Er hat recht“, murmelte Björn vor sich hin und senkte für Augenblicke den Kopf, um den Zorn zu verbergen, der heftig in ihm aufstieg.
„Drei tandhenische Schiffe, verdammt“, sagte Egil Asgerson, der jüngste Sohn des tandhenischen Königs, der mit Björn ans Heck gehastet war, um die Gefahr, die ihnen von den Schiffen drohte, einzuschätzen. „Sie wurden vermutlich von meinem Vater geschickt. Doch woher stammen diese Schiffe, Björn?“, fragte er den Freund, der immer noch schwieg und auf die Verfolger starrte. Björn Helgison antwortete ihm nicht. Er sah Egil nur betreten an und wartete ab. Egil schüttelte den Kopf und versuchte, sich von den Vorwürfen zu befreien, die immer in ihm aufstiegen, wenn sein Vater sich in sein Leben einmischte. Er hatte schon vor langen Jahren den Kontakt zu seiner Heimat abgebrochenen und sich in Bratana niedergelassen. Dort hatte er die Thronfolgerin geheiratet und mit ihr bis zu ihrem viel zu frühen Tod ein glückliches Leben gelebt. Er fühlte sich als Brataner und lehnte die starren Sitten und Gebräuche der tandhenischen Heimat ab. Deshalb hatte er sich entschieden, in der Schlacht um Amber für die Amberländer zu kämpfen, und sich gegen die Truppen seines Vaters gestellt. Er war dabei gewesen, als die feindlichen Tandhener vor wenigen Tagen mit seinem Bruder an der Spitze geschlagen nach Tandhen abziehen mussten. Von diesen Schiffen konnte es keines sein, dass ihnen folgte, denn diese Schiffe konnten nicht schon Tandhen erreicht haben und ihnen wieder gefolgt sein, in dieser kurzen Zeit. Doch es waren tandhenische Schiffe, die immer dichter zu ihnen aufschlossen, das war unberufen. Egil entsetzte sich angesichts der Ungeheuerlichkeit, dass sein Vater ihnen gedungene Mörder hinterherschickte. Enttäuscht und gänzlich versteinert starrte er auf die See, die ihnen das Unglück unaufhaltsam näherbrachte.
Björn sah kurz auf seinen Freund, der sich noch mit dieser Frage beschäftigte, und krallte wütend die Hände um die Reling.
„Ich kann mir sehr wohl denken, woher die Schiffe stammen und warum Asger sie uns hinterherschickt“, bemerkte Björn frostig. „Es sind die Schiffe deines Bruders Leif. Ich kenne sie, denn ich habe sie in Tettis schon einmal gesehen.“ Egil dachte nach.
„Wie ich meinen Bruder kenne, hat Leif die Schiffe sicher in Tettis zurückgelassen, um bei einer Niederlage der Tandhener die eigene Familie nach Tandhen zurückzubringen. Als er und seine Familie getötet und seine Truppen vernichtet wurden, sind die Schiffe bestimmt nach Tandhen zurückgekehrt und haben meinem Vater davon berichtet.“ Egil erkannte die heimtückische Vorgehensweise seines Vaters und wusste um seinen hinterhältigen Charakter.
„Ja, und weil er sich nicht an Kosos, dem übermächtigen Nebelfürsten, rächen kann, der deinem Bruder einen schmachvollen Tod bereitet hat, wird er sich an uns schadlos halten.“ Björn stieß diese Worte wie giftige Brocken aus sich heraus und hätte alles dafür gegeben, in Tandhen zu sein, um sich mit König Asger zu beschäftigen. Er sah auf die Schiffe und beruhigte sich etwas. Doch er wusste keinen Rat, sich ihrer zu entledigen.
„Dein Vater hat diese Männer hinter uns hergeschickt, um uns zu töten, denn er ist von irrsinnigen Rachegedanken getrieben und wird nicht aufgeben, bis wir alle tot sind. Wir hätten uns in der Schlacht um Amber nicht auf die Seite der Amberländer stellen sollen. Die Schmach einer Niederlage könnte er wohl noch verwinden. Auch dass du dich als sein jüngster Sohn auf die gegnerische Seite gestellt hast. Dass ich als Freund der Familie zusammen mit seinem Enkel Oskar gegen seine Truppen gekämpft habe, würde er notgedrungen hinnehmen. Doch dass deinem Bruder Leif durch Kosos, dem Nebelfürsten, ein unwürdiger Tod bereitet wurde, macht ihn verrückt. Er hält sich an uns und erst unser Tod verschafft ihm die Genugtuung, die es ihm erlaubt, sein Leben weiterzuführen“, sagte Björn zähneknirschend und innerlich sehr aufgewühlt.
„Das ist gut möglich“, sagte Egil und blickte Björn in die Augen. „Jetzt, da mein Vater alles verloren hat, schickt er uns diese drei Schiffe hinterher.“ Björn sah die Verzweiflung, die den Freund umtrieb, und griff Egil in den Arm. „Du bist nicht verantwortlich für die Taten deines Vaters. Mach dir lieber Gedanken darüber, wie wir die Schiffe abschütteln können, als dich in sinnlosen Vorwürfen zu suhlen.“ Egil nickte und sah auf die Feinde, die zügig aufholten.
„Verdammt, in weniger als einer Stunde werden sie uns erreicht haben“, sagte Björn wütend und warf noch einen letzten Blick auf die kampfbereiten tandhenischen Schiffe. Er schüttelte den Kopf und geriet in eine wehmütige Stimmung, die dem Glück geschuldet war, dass er noch vor wenigen Augenblicken verspürt hatte. Björn war zufrieden mit sich und seiner Welt gewesen. Er und seine Kampfgefährten hatten auf Amber einen ehrenvollen Sieg errungen. Sie hatten die Feinde der freien Welt bekämpft und sie von dort verbannt. Björn zog glücklich mit seiner Familie heim nach Bratana, im sicheren Wissen, was er in seinem zukünftigen Leben noch vorhatte. Sein altes Leben, in dem er plündernd und marodierend in der Welt herumgezogen war und mit Sklaven gehandelt hatte, hatte er hinter sich gelassen. Die Freude auf ein unbeschwertes Leben mit seiner Familie ließ ihn das menschliche Dasein in seiner ganzen Schönheit begreifen. Seit seiner Abreise aus Amber war alles makellos gewesen, bis zu dem Moment, als sie die feindlichen Schiffe gesichtet hatten, die ihnen den Tod bringen sollten. Es war ein geschickter Zug von König Asger, dieses eine Schiff aufzubringen, auf dem alle nach Bratana fuhren, die in Amber die Heere geführt hatten. Er konnte auf einen Schlag die meisten seiner Feinde vernichten. Denn mit ihm und seiner Familie reisten das bratanische Königspaar und Egil Asgerson zurück nach Bratana. Sie alle machte Asger nebulös für den Tod seines Sohnes Leif verantwortlich. In Björn gärte es, denn noch vor wenigen Augenblicken hatte er sich vorgenommen, lange und glücklich zu leben, um irgendwann als alter Mann seine Kinder und Kindeskinder zu genießen. Sein Auskommen war gesichert und sein ehrenvolles Leben konnte endlich beginnen. Selten hatte sich Björn so tief im Jetzt verwurzelt gesehen wie gerade eben, unmittelbar vor seinem herannahenden Tod.
Björn sah wieder auf die Schiffe, die ihnen folgten, und fürchtete fast, dass er heute zur Rechenschaft gezogen werden sollte für seine Verbrechen in der Vergangenheit.
„Sie rücken sehr schnell auf, zu schnell“, bemerkte Björn gallig, der sehen konnte, dass ihnen keine Zeit mehr blieb, lange zu grübeln. Sie mussten handeln, andernfalls wären sie verloren.
„An die Ruder“, schwoll sein Ruf drohend über die Männer hinweg, die ihn erschrocken anblickten und sich eilig an die Ruder setzten und sich kräftig in die Riemen legten. Niemand hatte vor, sich mit einem wie ihm auseinanderzusetzen. Björn und Egil sahen ihnen eine Zeitlang zu, um das Kräfteverhältnis beider Parteien abzuschätzen, als sich König Oskar zu Wort meldete, der ebenso gebannt die feindlichen Schiffe beobachtete.
„Die Feinde sind in jedem Fall schneller als wir“, bemerkte er nüchtern. „Wenn sie uns einholen, dann muss jeder Mann hier auf dem Schiff, der ein Schwert führen kann, mit einer Übermacht von mindestens vier Feinden rechnen. Er hat es sich gut ausgedacht, dein Vater, um uns und unsere Familien vollständig auszulöschen. Die Sippenhaft der Nordleute ist eine bewährte Maßnahme, sich seiner Feinde zu entledigen“, sagte der König der Brataner zynisch und sah in Richtung seiner Heimat. Oskar war schon lange nicht mehr der unmündige, fröhliche Junge, den Björn vor einem Jahr kennengelernt hatte. Er war ein Mann geworden, der sich kühl mit den Gegebenheiten auseinandersetzte und niemals etwas beschönigte. Doch die Hoffnungslosigkeit, die sich in seine Worte einschlich, war Björn nicht von ihm gewohnt. Die Unbekümmertheit, die Oskar Ashby noch vor seiner Heirat mit Königin Alana innegewohnt hatte, hatte sich verändert. Sie war einer klaren Vernunft gewichen, die sich mit Problemen nüchtern auseinandersetzte. Er war jemand, der niemals aufgeben würde.
Oskar legte die Stirn zweifelnd in Falten. „Können wir Bratana noch vor den Verfolgern erreichen?“
„Niemals!“, war Björns knappe Antwort. „Wir sind zu wenige, die zu viele Menschen auf diesem trägen Schiff befördern müssen. Wenn ich mich nicht täusche, werden wir in einer Stunde nicht mehr am Leben sein“, bemerkte er zähneknirschend und entwickelte einen gewaltigen Zorn auf Asger Sverrison, den heimtückischen König Tandhens, so dass sich Egil zu fürchten begann, als er in Björns Gesicht sah. Doch Björns Zorn hatte einen Grund.
„Wenn nur nicht meine ganze Familie mit an Bord wäre, dann wäre mir der Tod gleichgültig. Verdammt, Asger, das ist unehrenhaft von dir.“ Als Björn den anderen ins Gesicht sah, wusste er, dass sie ebenso dachten wie er und sich vor der nächsten Stunde fürchteten. Björn richtete seinen Blick noch ein einziges Mal auf die See, um seine Gedanken zu beruhigen, die ihm wie wild durch den Kopf rasten. So war es immer, wenn er sich nicht geschlagen geben wollte. Björn stand mit verbohrtem Sinn auf dem Schiff und sann unaufhörlich auf einen Ausweg. Er sah gehetzt auf die Schiffe und maß die Strecke, die sie schon zurückgelegt hatten im Geiste und befand, sie waren dichter an der Küste Bratanas als an der Ambers. Doch immer noch nicht in Reichweite einer nennenswerten bratanischen Unterstützung. Er war außer sich und schüttelte den Kopf.
„Wenden können wir nicht mehr“, sagte er angespannt zu Egil, der schon vermutete, was Björn dachte.
„Nein, das ist richtig. Der Weg zurück nach Amber ist zu weit. Aber vielleicht schaffen wir es doch noch an die bratanische Küste. Wenn wir uns mächtig ins Zeug legen“, überlegte er krampfhaft, obwohl er wusste, dass es nur sein eigenes Wunschdenken war, das ihn zu dieser Meinung trieb.
„Wir sind verloren“, murmelte Egil vor sich hin und war nahe daran, den Verstand zu verlieren. Der Hass auf seinen Vater wuchs ins schier Unermessliche. Doch auch das half ihm nichts. Gleich darauf sank er in sich zusammen, unfähig, den nächsten Schritt zu erwägen. Sie standen, zur Untätigkeit gezwungen, auf dem Schiff und Björn sah mit irrem Sinn auf die feindlichen Schiffe. Da endlich verstand Björn wie schon Egil zuvor, dass sie der Übermacht der Feinde hilflos ausgeliefert waren. Es traf ihn wie ein Hammerschlag. Er wusste, dass sogar sein tapferes Herz keinen Ausweg mehr ersinnen konnte. König Asger, der feige Hund, würde bald seine Rache erhalten. Wäre nur seine Familie nicht mit dabei. Alle würden sterben. Das war ein dunkler Tag in seinem Leben. Hier, mitten auf der ruhigen See, sollten sie der Vergeltung König Asgers, dieses verbohrten, alten Mannes, niemals entkommen können. So ein widersinniges und missglücktes Ende seines Lebens hatte Björn nicht erwartet. Er schloss entsetzt die Augen und hatte nicht vor, sie wieder zu öffnen. Sollte dieses Drama seinen Lauf nehmen, doch er wollte nicht zusehen müssen, wie Asger sie alle ins Verderben jagte. Deshalb sah er nicht, wie Alana, die Königin Bratanas, zu ihnen trat.
„Rudert um euer Leben, Männer. Wir müssen schneller werden. Haltet unablässig auf die Küste Bratanas zu“, hörten sie plötzlich Königin Alanas Stimme über sich hinweg rufen. Sie drang mit ihren forschen Worten direkt in die Herzen der Männer, die gerade noch hoffnungslos gewesen waren und entmutigt mit dem Rudern einhalten wollten. Doch diesem Wink der Königin wollten sie nun liebend gerne Folge leisten, auch wenn sie nicht wussten, was diese Frau beabsichtigte. Aber keiner der Männer wollte tatenlos sterben. So zögerten sie keinen Augenblick mehr und legten sich noch kräftiger als zuvor in die Riemen, um gegen alle Vernunft ihrem Schicksal zu trotzen.
„Lass das, Alana“, bat König Oskar seine Frau. „Warum hetzt du diese armen Männer so sehr nach Bratana?“, fragte er sie. Oskar musterte seine Frau sehr kritisch. Sollte Alana plötzlich vor Angst verrückt geworden sein? Doch sie lächelte ihn kurz an, ehe ihre Miene wieder völlig ernst wurde.
„Wir müssen so dicht wie möglich an die Küste Bratanas heranfahren. Wir fliehen scheinbar vor den Feinden, in der sicheren Gewissheit, dass sie uns bis zuletzt folgen werden. Eben das sollen sie, sie müssen es sogar, wenn wir überleben wollen. Verstehe doch, Oskar, wir lassen sie bis dicht an Bratana heranrücken“, sagte sie versonnen zu ihrem Mann. Als sie seine fragende Miene sah, lächelte sie. „Ich bin nicht verrückt geworden, auch wenn du das vermutest. Verstehe doch, unsere Hoffnung, die Schiffe der Tandhener zu zerstören, liegt in der Hilfe, die wir von den Nebelfürsten erwirken können. Ich vertraue auf Rhianar und Kalia, die geschworen haben, die Feinde Bratanas zu vernichten. Wir müssen die Aufmerksamkeit der Fürsten erregen, damit sie die Schiffe der Feinde zerstören.“ Als Oskar immer noch verwirrt aussah, trat Alana dichter an ihn heran, so dass sie Oskar beruhigend am Arm berühren konnte.
„Fürstin Kalia hat einst um Bratana einen Banngürtel gelegt. Er liegt vor allen verborgen und dient dazu, die Feinde Bratanas aufzuspüren, um sie zu vernichten, ehe sie Schaden anrichten können. Hast du dich nie gefragt, warum Bratana bisher von allen Eroberungskriegen verschont geblieben ist? Wie auch immer, genau diesen Warngürtel müssen wir erreichen, ohne dass wir vorher von den Feinden aufgebracht werden. So locken wir die Feinde in die Falle. Sie verfolgen uns und werden vernichtet, wenn sie sich Bratana zu sehr nähern. Uns kann König Asger leicht vernichten, aber wenn er die Macht der Nebelfürsten herausfordert, sind seine Schiffe verloren.“
„Und du glaubst, die Nebelfürsten werden uns helfen?“, fragte Oskar gereizt, der daran dachte, dass sich die Nebelfürsten schon aus der Schlacht um Amber herausgehalten hatten. „Die Fürsten sind vollauf damit beschäftigt, Etaldir zu retten, nachdem die ehemaligen Feinde der Nebelländer, die Namahd, sich nach Berrex Tod wieder erhoben haben. Da ist ihr Interesse an einigen wenigen Menschen nicht sehr groß, fürchte ich“, sagte Oskar und sah seine Frau traurig an, denn er glaubte, die Stunde ihres Todes wäre gekommen. Doch Alana schüttelte den Kopf und lächelte Oskar gewinnend an.
„Du täuscht dich in ihnen“, sagte sie im festen Glauben an die beiden Fürsten Rhianar und Kalia. „Ich weiß, dass sie für Bratana einstehen werden, womit auch immer sie jetzt beschäftigt sind. Denn wenn die Tandhener mich oder dich töten sollten, dann töteten sie einen direkten Nachkommen der Nebelfürsten, weil wir beide mit ihnen verwandt sind. Menschen zwar, doch mit dem Blut der Nebelfürsten gesegnet und damit berechtigt, ihre Hilfe einzufordern in der Stunde der Gefahr“, sagte sie zu Oskar, weil sie wusste, dass es ihre letzte Rettung wäre.
„Falls Rhianar zu Hause ist, um uns zu Hilfe eilen zu können“, parierte Oskar Alanas Vorschlag bissig. „Die Fürsten konnten das schon auf Amber nicht“, sagte Oskar noch verächtlicher. Er hatte es den Nebelfürsten noch immer nicht verziehen, dass sie die Menschen auf Amber im Stich gelassen hatten in der Stunde der größten Gefahr. Trotz ihres hehren Versprechens, sich für die Amberländer einzusetzen. Deshalb hoffte er nicht mehr auf die Hilfe der Fürsten. Doch Alana, die die Fürsten besser einschätzen konnte als Oskar, hatte den Glauben an Kalia oder Rhianar noch nicht aufgegeben. Sie schüttelte den Kopf.
„Ich weiß, die Fürsten werden uns helfen. Wo auch immer sie sich gerade aufhalten. Sie erhalten eine Warnung. Ich bin mir sicher. Auch wenn sie gerade gezwungen sind, ihre Welt zu retten, wird ihnen Bratana nicht gleichgültig sein. Es ist Fürstin Kalia nicht gleichgültig, was uns oder ihrer Insel widerfährt.“ Alana sagte es mit dem Vertrauen eines Kindes auf den allmächtigen Schutz der eigenen Mutter. Egil und Oskar sahen sie verwundert an. Björn jedoch grinste zusehends unverschämt.
„Versucht erst gar nicht, sie zu verstehen“, mischte sich Björn ein, der Alana aufmerksam zugehört hatte. „Glaubt wie sie nur einfach an die Hilfe der Nebelfürsten. Es scheint etwas zu geben, von dem wir nichts wissen. Vielleicht ist es eine Absprache, die die Königinnen von Bratana mit den Fürsten getroffen haben. Sei‘s drum, wir haben sowieso keine andere Wahl, als an das zu glauben, auf das die Königin selbst hofft.“ Björn war verschlagen genug, um immer zu erkennen, wann jemand noch ein Ass in den Ärmeln hielt. Deshalb nickte er Alana ergeben zu. „Diese Aussicht wäre dann allemal besser als nichts. Ich hoffe, dass du recht hast, Königin“, sagte er fast schon schelmisch, denn er wusste nun, was zu tun war.
„Lasst uns die Ruder endlich selbst bedienen“, rief er allen auf dem Schiff zu. „Es ist ehrliche Arbeit, und wenn ich meine Kräfte nicht für einen Kampf aufsparen muss, kann ich mich ebenso gut in die Ruder legen, um dichter und schneller an die Küste Bratanas heranzukommen, wenn das unserer Sache dienlich ist“, sagte er nun völlig ohne Spott und besetzte einen freien Platz an den Rudern. Die anderen sahen ihm zu und taten es ihm nach. Sie zögerten und zauderten nicht länger. So saßen kurz darauf einträchtig das einfache Volk und die Herrscher an den Rudern und schonten sich nicht, den Weg hinter sich zu bringen als einzige Hoffnung, die ihnen blieb.
„Sie rücken näher, Björn“, rief ihnen Sarah Helgison, sein Weib, entgegen. Sarah wollte nicht mehr länger nur zusehen, wie andere über ihr Schicksal entschieden. Auch sie setzte sich an ein freies Ruder und sogar Königin Alana wählte einen Platz und strengte sich an, mit der ungewohnten Arbeit zurechtzukommen. So hielten sie tapfer auf Bratana zu und mussten doch erkennen, dass die Feinde stetig aufrückten.
„Weißt du, wie dicht der Banngürtel um die Küste gezogen ist?“, wollte Oskar von Alana wissen.
„Nein, das weiß ich nicht. Doch es ist gleichgültig, denn ich kann ebenso wenig wie du abschätzen, wie weit wir noch von Bratana entfernt sind.“ Sie schwieg, denn es war Männerarbeit, die sie verrichtete. Sie wollte helfen und kümmerte sich nicht mehr um die Fragen und Ängste der anderen. Sollten sie selbst damit zurechtkommen. Als sie einmal den Kopf hob, sah sie die tandhenischen Schiffe schon so dicht an sich herangerückt, dass sie die Farben der bunten Schilder an der Außenhaut der Schiffe erkennen konnte. Fast blickte sie in die Gesichter der Feinde. Der Schweiß stand ihr auf der Stirn und sie erschrak darüber so sehr, dass ihr Herz einen Sprung tat und ihr ein wenig schwindelig wurde.
Königin Alana meinte zu fallen, was nicht ging, weil sie schon saß. Sie beruhigte sich und fühlte sich plötzlich leicht und befreit. Die Angst, die sie gerade noch umgetrieben hatte, war der sicheren Gewissheit gewichen, den Sieg über diese Tandhener davonzutragen. Sie lächelte darüber, denn es schien ihr, als ob jemand für sie in die Zukunft blickte. Alana war sich plötzlich einer schützenden Nähe und Sicherheit bewusst, die sie selten so unmittelbar verspürt hatte. Als sie sich aufgeregt nach den anderen auf ihrem Schiff umsah, war sie auf einmal alleine. Sie blickte stirnrunzelnd auf den Boden des Schiffes, doch dieser Boden existierte nicht mehr, wie auch gleich danach das Schiff nicht mehr war. Sie selbst befand sich nicht mehr auf dem Meer, sondern unweit darüber. Alana zog überrascht die Augenbrauen zusammen und versuchte sich zu sammeln, um nicht in Panik zu geraten über die Frage, was sie war und wo sie sie war. Denn dass sie die menschliche Hülle verlassen hatte und sich in einem anderen Zustand befand als dem, der ihr ein Lebtag lang bekannt gewesen war, erkannte sie blitzschnell. Ehe sie sich jedoch darüber aufregen konnte, hörte sie in ihrem Kopf eine Stimme. Wer es war, der sie rief, wusste sie nicht, aber sie tat ohne zu zögern, was man ihr riet. Denn sie war erfüllt von dem überwältigenden Gefühl, über eine übermächtige Freiheit und grenzenloser Macht zu verfügen. So etwas hatte sie vorher noch nie verspürt und sie wusste, dass sie diese unbegrenzte Freiheit atemlos begehrte und sie sich ihrer jederzeit bedienen wollte.
„Du bist von unserem Blut, Alana, und in Lebensgefahr. Wünsche dir etwas von mir. Du kannst von mir die Macht erhalten, deine Verfolger zu besiegen. Doch du musst alles selbst tun. Dir wird außergewöhnliche Stärke übertragen, wenn du das willst. Nutze sie sorgsam“, forderte sie die fremde, freundliche Stimme auf. Alana lächelte, hatte fast schon vergessen, dass sie sich im überirdischen Nichts befand, und zögerte keinen Augenblick länger, ihren Wunsch zu äußern.
„Ich will den Tod der Feinde, die uns folgen“, forderte sie gebieterisch. „Unser Schiff jedoch soll unbeschadet die Heimat erreichen“, murmelte sie konzentriert vor sich hin und noch ehe ihr bewusst wurde, was sie eben gesagt hatte und was es für Folgen für die Tandhener haben konnte, schwoll ihre Stimme schon tausendfach an und trug ihren Wunsch endlos wiederholt und für jeden deutlich vernehmbar über die ruhige, bratanische See. Ehe sie sich der Macht, die auf sie übergegangen war, bewusst war, wurde ihr Wunsch schon zum vernichtenden Hammerschlag, der auf die feindlichen Schiffe niederging.
Alana hatte vor einigen kurzen Augenblicken mit ihrem Schiff den Banngürtel um Bratana erreicht und dabei ihre Zeit und ihr Dasein als Mensch verlassen, weil sie das Erbe der Nebelfürsten in sich trug. Sie befand sich auf einer höheren Ebene, in einer Sphäre, die sie befreite vom beengten Dasein der Menschen. Sie erhob sich machtvoll über die Feinde, die immer noch an ihr menschliches Dasein gebunden und dem drohenden Tod in ihrer Welt verhaftet waren. Alana hörte ihre eigene Stimme, die immer noch bedrohlich über die einfachen Menschen auf den Schiffen hinwegfegte, und sie erkannte, wie der Klang ihrer Stimme sich stetig verfinsterte und dunkel und fordernd über die spiegelglatte See hinweg strich. Dabei begann ihre Stimme das Meer aufzuwühlen. Zuerst kräuselten sich nur die Wellen im Takt ihrer Gereiztheit. Dann jedoch, als sich Alana darüber freute, weil es ihr so gut gelang, und sie dabei lernte, die übernatürliche Macht gezielter einzusetzen, fingen die Wellen an, sich höher aufzutürmen. Sie rüttelten erbarmungslos an den Schiffen, die sich auf der See befanden, und brachten sie gefährlich in Bedrängnis. Auf Alana wirkten die schmalen, schnellen Kampfschiffe der Feinde wie die fragilen Rindenschiffchen, die sie als Kinder auf den Bächen treiben lassen hatten, als die Wellen sie nun auf ihr Geheiß hin und her schaukelten.
Die Königin geriet zusehends in den Zauber dieser Macht, die sie zuerst noch dilettantisch benutzte. Doch Alana war willens zu lernen, hörte auf ihre innere Stimme und verfügte schon bald über das Wissen, diese allseits vernichtende Stärke zielgerichteter einzusetzen. Doch noch gelang es ihr nicht, ihr eigenes Schiff aus der Gefahrenzone herauszuhalten. Sie wünschte sich zwar inständigst, die Freunde zu retten, doch sie brachte sie mit der Wahl der Mittel, mit denen sie die Feinde bekämpfte, immer stärker an den Rand einer unabwendbaren Katastrophe. Alana fehlte die Anleitung, das Wesen dieser ausufernden Macht zu verstehen. So wühlte sie mit ihrem Hass zwar die See bedrohlich auf, doch brachte sie die Schiffe, die sich auf ihr befanden, gleichermaßen in Bedrängnis. Alana entdeckte, dass sie sich veränderte, während sie diese Macht gebrauchte, die ihr zugedacht war. Sie verlor das enge Gefühl und die Bindung an die Menschen, die ihr einmal nahegestanden hatten. Die bleierne Angst, die ihr noch im Gedächtnis saß, zufällig auch ihre Familie zu vernichten, verschleierte ihren Verstand und ließ sie Fehler begehen, die auch ihrem eigenen Schiff schadeten. Sie verstand, dass sie ihre menschlichen Gefühle im Zaum halten musste, um die Stärke zu haben, die Macht zu gebrauchen, die ihr die Fürsten übertrugen. Als sie sich noch sorgte, wie sie sich gegen ihre menschlichen Empfindungen abgrenzen konnte, schlich sich schon die Distanz und Ignoranz, die die Fürsten von jeher den Menschen entgegengebracht hatten, in ihr Denken und ließ sie die unmittelbare Nähe zu den Ihren verlieren. Eine alles umfassende Abneigung gegen die Menschen, ausgelöst vom Zorn über ihre Feinde, ließ die See gefährlich aufpeitschen. Sie begriff, dass die fehlende Nähe zu ihren Liebsten der Preis der Macht war, die sie zu nutzen berechtigt war. Dieser Zwiespalt ihrer Gefühle brachte sie in eine tiefe Not und ließ sie nur noch weiter in die entfernte Welt der Nebelfürsten abgleiten. Sie sah zwar, wie sich die geliebten Menschen auf dem Schiff fürchteten, während es wie die Schiffe der Feinde gefährlich auf dem hoch aufragenden Wellensaum tanzte, doch sie verspürte kein Mitgefühl mehr für die minderwertigen Kreaturen, denen sie sich überlegen fühlte. Kalte Arroganz schlich sich in ihr Wesen ein und wurde zum absonderlichen Maß ihres Zorns. Die grenzenlose Unverschämtheit der Feinde ließ sie die geeignetsten Mittel wählen, deren Vernichtung herbeizuführen. Sollten die Freunde und selbst ihr Mann Oskar mit ihnen untergehen, ihr Zorn wäre gerecht gewesen, denn ihre Feinde wären vernichtet. Gerade als sie sich kalten Herzens entschloss, den letzten Schlag gegen die Tandhener zu führen, drang Oskars Stimme an ihr Ohr und rührte an ein tief verborgenes Gefühl, gegen das sie sich nicht erwehren konnte. Ein heißer Strom tiefer Liebe störte die eisige Rache, die sie nehmen wollte, und ließ sie endlich die fehlende Kraft verspüren, das eigene Schiff zu retten.
Jetzt erst erkannte sie überrascht, wie sehr ihr eigenes Schiff schon in Bedrängnis geraten war. Ihre eigenen Leute befanden sich mitten in diesem gefährlichen Strudel, der die feindlichen Schiffe vernichten sollte. Sie richtete ihren Blick auf die Menschen, ihre Freunde, die dort auf den feuchten Planken des Schiffes kauerten und sich ängstlich an die Reling und den Mast des Schiffes krallten. Sie erkannte, wie unmittelbar bedroht ihr Schiff war. Alana erschrak darüber, war verzweifelt und wusste dennoch keine Lösung, denn sie beherrschte die Macht noch nicht völlig. Sie wusste nicht, wie sie ihr eigenes Schiff schützen sollte, das mit den feindlichen Schiffen zusammen auf den aufgetürmten Wellen tanzte, die sie in ihrem Zorn geweckt hatte. Diese Wellen konnten nicht mehr aufgehalten werden. Sie wuchsen jetzt ungehemmt und machtvoll, weil das Meer mittlerweile die Kraft dafür aus dem Wind stahl, der sich eilends erhob.
Haushohe Wellen ließen nun die Schiffe der Feinde und das eigene auf dem Wellenkranz schaukeln, träumerisch fast schon im Takt der Wellen. Als Alana ihre Aufmerksamkeit darauf richtete, steigerten sie sich in einen bedrohlichen Tanz des Verderbens. Alana begann darüber zu lachen, als sie sah, dass es die Macht ihrer Gedanken war, die die tandhenischen Feinde völlig vernichten konnte. Sie schaukelten die Wellen unablässig auf. Sie verstand den Kern der Macht endlich vollständig. Jetzt geschah nichts mehr nur zufällig, sondern war ihrem eisigen Kalkül geschuldet. Sie wusste sich der Macht sicher zu bedienen. Doch selbst jetzt noch vergaß sie, das eigene Schiff zu schützen. Die See schwoll unaufhörlich an und die Wellen peitschten sich bedrohlich auf. Die feindlichen Schiffe begannen schließlich zu schlingern, und als sie fast kenterten, wähnte sich Alana in einem Rausch, der zuließ, dass sie alles, was sie sich wünschte, sofort vollbrachte.
Alana war nur noch reine Macht und kalter Willen. Sie hörte die Schreie der Feinde, die ihre Schiffe und damit ihr Leben verloren. Alana erfreute sich kalten Herzens darüber, doch störten sie die hohen Töne, die wie die Schreie von Kindern oder Frauen klangen. Alana runzelte die Stirn. Als sie diesmal gewahr wurde, dass die aufgepeitschte See das eigene Schiff zerstören wollte, und sie die Freunde und Familie sich furchtsam an die feuchten Schiffsplanken schmiegen sah, winkte sie das eigene Schiff energisch, mit der Kraft ihres Willens in die fernen Wolken, die friedlich über dem Chaos weilten, und brachte es dort in Sicherheit. Dann widmete sie sich erneut den Feinden, die nun alleine ihrem kalten Zorn ausgesetzt waren. Alanas Zurückhaltung schwand völlig, jetzt, da das eigene Schiff außer Gefahr war. Sie hatte ein freies Feld vor sich, um zu wirken, wie es ihr gefiel. Nichts hielt sie mehr auf in ihrem fürchterlichen Zorn.
Alana ließ die Wellen turmhoch anschwellen. Die bratanische See wurde wie ein finsterer Strudel, der alles vernichtend in die Tiefe zog, das sich in seiner Nähe befand.
Sie blickte nur einmal kurz neben sich auf das bratanische Schiff, das in den Wolken schwebte, und erkannte, wie ihr die Menschen gebannt zusahen, während sie die verhassten Feinde vernichtete. Dabei ahnte Alana nicht, wie sie den Menschen erschien. Sie erblickten Alana im Zentrum ihrer Macht und erkannten doch nur eine dunkle, treibende Wolke, die eine undeutliche menschliche Form darstellte. Eine, die vage der Königin von Bratana glich und die stetig lichter wurde, bis sie nur noch wie ein durchsichtiges graues Schimmern wirkte. Alana schwebte darin über allem und von dort regierte sie mit eisigem Sinn das Treiben auf der brodelnden See. Hätte sie gewusst, wie sie den zurückgebliebenen Freunden erschien, es hätte sie nicht gestört, denn sie war fern ihrer Welt und nur damit beschäftigt, die Gefahr zu vernichten, die sie und die Menschen, die sie liebte, bedrohte. Der eisigen Königin war bewusst, dass auf ihr die Hoffnung derer lag, die sich auf dem bratanischen Schiff befanden.
Alana lächelte darüber, denn sie war nun unbesiegbar. Sie stieß ihren hasserfüllten Zorn unablässig auf die Feinde herab und erst, als die Wellenkämme die Holzplanken der feindlichen Schiffe völlig zerschmetterten und die Feinde schreiend und weinend in den aufgewühlten Fluten von der Küste Bratanas weg auf die offene See getrieben wurden, hatte Alana endlich genug von dieser fremden Macht. Die Feinde trieben auf die offene See hinaus, ihrem Verderben und dem sicheren Tod entgegen. Ihr Zorn schwoll leise ab und sie atmete beruhigt auf. Als sie endlich wieder zur Vernunft kam, sah sie nur noch die zerstörten Planken und die bunten Schilder der drei tandhenischen Schiffe im Meer treiben. Geplagte, dem Tode geweihten Männer klammerten sich daran. Aber weil sie noch lebten und sich verzweifelt gegen den Tod, der ihnen von Alana zugedacht war, sträubten, stachelten sie Alanas Zorn erneut an. Sie wurde wütend, als sie in das Gesicht eines einzelnen Mannes sah und seine Gedanken las. Er war fest entschlossen, zu überleben und seinen Auftrag zu erfüllen, sie alle zu töten. Diese absonderliche Besessenheit der Menschen verärgerte sie. Sie wischte grausam und mit kalter Hand über die hilflos treibenden Männer hinweg und versenkte dadurch die Schiffsteile und die Körper der Männer tief auf den Grund der bratanischen See. Erst als sie dort lagen, dem zukünftigen Vergessen anheimgefallen, hatte sie genug von ihrer Rache.
Alana sank in friedliche Gedanken zurück. Sie gab die Macht demütig zurück und fühlte wieder diesen beängstigenden Schwindel und glaubte auch diesmal wieder zu schweben. Sie hoffte, sie würde nicht fallen und wenn doch, dass einer da wäre, sie zu halten und zu schützen. Das war das Letzte, das sie begriff, dann wurde es dunkel. Als sie erwachte, lag sie auf den feuchten Holzplanken des eigenen Schiffes, das sich nicht verändert hatte und ruhig auf der glatten bratanischen See segelte. Ein leichter Wind trieb das bratanische Schiff langsam aber stetig auf die heimatliche Küste zu, und als sie die Augen erneut öffnete, sah sie Oskar, ihren Mann, der sie hielt und sich sorgte. Er suchte ihren Blick, den sie noch nicht halten konnte, denn sie war noch nicht ganz in ihre Welt zurückgekehrt. Noch hatte sie die Macht der Nebelfürsten nicht völlig verlassen, die das bratanische Schiff zügig an die heimatliche Küste trieb. So segelten sie weiter und hatten nach einer Stunde schon den Hafen von Dulinga auf Bratana erreicht. Dort fuhren sie glücklich ein und sahen nicht mehr zurück. Denn es gab nichts mehr zu sehen, aber viel zu vergessen. Die Schiffe der Tandhener jedoch waren von der See getilgt worden, als hätten sie nie existiert. Die Menschen schwiegen über das, was sie erlebt hatten, strichen den finsteren Ritt auf den Wolken aus ihrem Gedächtnis, denn jetzt, da sie gerettet waren, wollte niemand mit Alana darüber sprechen. Sie vergruben ihre Erlebnisse tief in sich und wandten sich, wie sie es immer taten, dem Leben zu. Einem Leben, das sie unerwartet von Alana, der kalten, grausamen Königin, geschenkt bekommen hatten, die mit ihrer Kraft ihr Reich und ihre Untertanen geschützt hatte und doch als Mensch so sanft und feinfühlig war wie niemand zuvor.
Oskar brachte Alana nach Hause. Doch erst, als sie das wärmende Licht durch die spiegelnden Wände des Glaspalastes dringen sah, war sie heimgekehrt und war wieder die sanfte Königin, die sie immer gewesen war. Sie hatte einmal die Macht der Nebelfürsten angewendet, weil es ihr alleine gegeben war, ihr Reich zu schützen, da die Nebelfürsten verhindert gewesen waren. Sie hatten ihr eine Macht übertragen, die Alana kein zweites Mal führen wollte. Sie wusste, dann würde sie dem Drang nicht mehr widerstehen können und in Etaldir, dem Reich der Nebelfürsten, vergehen, denn sie war nur ein Mensch. Alana wünschte sich, niemals mehr in diesen Zustand zurückzukehren. Sie begriff mit einem Mal, wie beherrscht die Fürsten im Umgang mit den Menschen waren. Sie hatte diese unvorstellbare Macht gespürt, die diese fremden Wesen in sich trugen, und fürchtete sich davor, weil sie nun wusste, wie endlos zerstörerisch sie war. Alana wollte von da an nur noch ein glücklicher Mensch sein. Sie nahm Abstand von der Bewunderung, die sie bisher für die Nebelfürsten gehegt hatte. Ihr Menschsein hatte sie zurückgebracht zu Oskar, den sie liebte und damit zu ihrer Heimat. Sie war zufrieden mit sich, denn sie schätzte die Menschen jetzt höher ein als zuvor. Einzig die grenzenlose Freiheit zu tun, was immer sie wollte, rührte für eine lange Weile noch unablässig in ihr. Doch mit der Zeit verblasste auch dieses Gefühl und sie war wieder Mensch wie alle anderen um sie herum.