aus "Väter und Söhne"

Prolog

Der Leichnam lag aufgebahrt in der Halle der Ahnen. Berrex schlich leise durch das Dunkel der Nacht zum offenen Sarkophag. Er glitt lautlos über die blanken Fliesen und stand mit kaltem Sinn an der sterblichen Hülle des Königs der Menschen. Sel­ten bot sich einem Fürsten der Nebel solch ein Opfer. Es dürstete ihn danach, die­sen Körper endlich zu besetzten. Erwartungsvoll legte Berrex seine Hand auf den Körper, um in den Toten zu schlüpfen, als die Erde zitterte. Berrex beachtete es nicht. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf sein Vorhaben, bis der Boden unter sei­nen Füßen bebte, dass er wankte und beinahe fiel. Die wohlmeinende Dunkelheit, die ihn eben noch umschlossen hatte, wich einem flackernden, roten Feuerschein.
Fürst Ewen ist hier, schoss es Berrex für einen Augenblick durch den Kopf, doch ehe er weiter darüber nachdenken konnte, erhob sich ein Sturm. Die Türen und die Fenster wurden in die Ahnenhalle gedrückt. Splitter und Holzreste sausten Berrex um den Kopf. Er duckte sich und wollte immer noch nicht vom König ablassen, als sich ein mächtiges Brausen erhob, das ihn erfasste und nach hinten zur Türe hinaus drängte.
Als er verärgert vor der Ahnenhalle stand, war die Nacht einem Licht gewichen, das nebelhaft rot glühend Himmel und Erde erfasste. Der undurchdringliche Nebel hinderte ihn, das Gesicht der Gestalt zu sehen, die vor ihm stand. Erst als sich die Schleier lichteten, erkannte er Fürst Ewen, den Ältesten der Nebelfürsten. Berrex spürte die Gefahr und wandte sich blitzschnell ab. Er versuchte zu fliehen, doch es war zu spät. Ewens Macht hielt ihn bei sich, ob es ihm gefiel oder nicht. Ehe sich Berrex zu Ewen herumdrehte, sammelte er sich und wollte sich seiner Kräfte versichern. Doch zu seiner eigenen Überraschung fand er sich beinahe machtlos. Ein tiefer Schrecken erfasste Berrex und finstere Gedanken jagten durch seinen Kopf.
„Du kannst nicht fliehen, Berrex“, sagte Ewen ohne Mitgefühl in der Stimme. „Du warst einst der Mächtigste unter uns, aber wir sind dir nun überlegen. Du wirst heute das Strafmaß erfahren für deine verachtenswerten Taten gegen die Menschen. Du wirst sie noch in dieser Stunde büßen.“
Er zwang Berrex, ihn anzublicken. So standen sie sich gegenüber, Ewen, der älteste Nebelfürst, und Berrex, ihr gewählter Führer.
„Menschen, was kümmern dich diese schwachen Kreaturen?“, bemerkte Berrex abfällig. „Wen kümmert es, ob sie leben oder tot sind? Sie sollten uns dienen, doch stattdessen schlossen wir Verträge mit ihnen, als wären sie uns ebenbürtig. Du, Ewen, solltest es besser wissen. Du warst derjenige der Fürsten, der sie am meisten ablehnte, als sie Amber vor Jahrhunderten besiedelten. Vor dem ersten Krieg, in dem wir sie gegen ihre Feinde unterstützten“, warf ihm Berrex verächtlich entgegen. Er versuchte, Zeit zu gewinnen. Hoffte, die Hilfe seines Volkes könnte ihn noch retten, erahnte er doch seine Niederlage. „Wäre es nicht besser gewesen, wir hätten sie gleich damals in die Knechtschaft geführt?“, fragte Berrex mit zweideutigem Sinn. Er sah kurz zur Ahnenhalle und dachte an den toten König, der sein hätte werden sollen. Er hasste Ewen, der ihm dabei im Weg stand. Berrex traute Ewen nicht, sah in die Ferne, als käme seine Rettung gleich hinter den Bergen hervor. Doch es rührte sich nichts dort. Da wusste Berrex, dass es Ewen ernst war und er die Wahrheit sprach.
Wütend trat er auf den Ältesten der Fürsten zu und wollte ihn am Kragen packen, als ein Feuerblitz vor ihm in den Boden fuhr. Berrex wich überrascht zurück.
„Deine Taten und die deines Volkes an den Menschen Ambers wurden entdeckt, Berrex. Die abtrünnigen Silven, wie sie ab jetzt genannt werden, dein gewissenloses und niederträchtiges Volk, wurden schon entmachtet und dir vorausgeschickt. Du wirst ihnen nun folgen. Nichts kann dich mehr retten. Auch nicht der tote König der Menschen, den du missbrauchen wolltest für deine niederen Gelüste“, erklärte Ewen dem gefallenen Führer der Nebelfürsten mit eisigen Worten. Sein Blick ruhte kalt und abweisend auf Berrex, der nicht zu begreifen schien. Doch Berrex dachte fieberhaft über Ewens Worte nach. Ewen hatte recht. Er begehrte immer noch den leblosen Körper, der ihm die Sinnesfreude der Menschen eröffnen sollte. Er hätte ihn haben können, wäre ihm nicht Ewen im Weg gestanden. Ein irrer Sinn bemächtigte sich Berrex. Die hemmungslose Machtgier, die Berrex seit jeher beherrschte, ermöglichte ihm, ein letztes Mal Kraft zu schöpfen. Berrex bot zum letzten Mal unermessliche Stärke auf. Und noch ehe Ewen die Gefahr heraufziehen sah, stürzte sich Berrex auf ihn und krallte seine Fäuste um den Hals des älteren Fürsten. Er riss an ihm und versuchte, ihn zu Boden zu zwingen, um ihn dort zu ersticken. Doch als er Ewen dabei im krankhaften Wahn in die Augen blickte, fühlte Berrex überrascht, wie seine Kräfte unerbittlich schwanden. Er bemühte sich verzweifelt, den alten Mann endlich zu bezwingen. Ewen jedoch beeindruckten seine Versuche nicht, er war ihm überlegen. Als Berrex sich in einem alles verzehrenden Wahn an Ewens Körper festbiss, um doch noch als Sieger hervorzugehen, zwang ihn die Macht des Fürsten entschlossen zu Boden. Gleich einem Wurm duckte Berrex auf der Erde. Erbarmungslos auf sie gepresst. Unfähig sich zur Wehr zu setzen.
Ein leises Brausen und Gemurmel hob an. Als es anschwoll, wollte sich Berrex die Ohren verschließen, doch Ewen ließ es nicht zu. Berrex musste es aushalten, dieses wimmernde Wehklagen und das wilde Toben wütender Schreie der geschundenen Menschen, deren Furcht und Ohnmacht sich in schneidenden Tönen bündelten. Sie zermarterten Berrex das Hirn und den Sinn. Er konnte kaum noch atmen und ließ in seiner Not die eigenen Schreie vereinen mit den Stimmen der gemarterten Menschen.
Als sich das Tosen beruhigte, sprach Ewen Recht.
„Du und dein Volk werdet vom Rat der Fürsten nach Kyrta ins Vergessen verbannt. Eure Verbrechen gegen die Menschen sind damit gesühnt. Ihr werdet euch durch die Erde wühlen müssen, um jemals wieder das Licht der Sonne, die frische Brise des Windes oder den Regen zu spüren. Ihr seid auf ewig vergessen. Ohne eure Macht sollt ihr euch nach dem freien Leben sehnen und so bis zum Ende der Welt existieren“, so trug es Ewens Stimme, so alt wie die Welt, in die Unendlichkeit hinaus.
Und Berrex fand sich wieder in einer finsteren Höhle der Nebelberge, die ihn höhnisch wispernd mit eisiger Kälte umfing.

König Halfdans Pläne

„Ilari, der König verlangt nach dir.“
Der König kann mir den Buckel hinunterrutschen, dachte sich Ilari, der seine Mutter rufen hörte. Er war gerade dabei, mit bloßen Händen ein Eichhörnchen zu fangen, seit einer Stunde schon passte er das Tier vor seinem Bau ab. Er hatte es dort hineinlaufen sehen, und wenn er sich nicht irrte, musste es jeden Augenblick wieder herauskommen. Er beschloss, die Mutter zu ignorieren, und konzentrierte sich auf seine Aufgabe. Ihm fehlten noch zwei Eichhörnchenschwänze, um seinen Köcher fertig geschmückt zu haben, wie es von einem neunzehnjährigen Edelmann verlangt wurde.
„Ilari, du musst sofort kommen, sonst wird der König zornig.“
Wieder hörte er sie rufen und wieder ging sie ihm auf die Nerven. Er hatte nicht vor, zum König zu gehen, denn dann müsste er wegen Prinz Borks Dummheiten zu Kreuze kriechen. Sollte König Halfdan doch zornig werden, aber diesmal war es sein Sohn, der die letzte Dummheit eingefädelt hatte. Jetzt stünde er, Ilari Thorbjörnsson, nicht zur Verfügung. Und gerade als er sich gestattete, einen kurzen, gequälten Blick in Richtung seiner Mutter zu werfen, die ihn ein drittes Mal rief, stobte das Eichhörnchen aus seinem Bau heraus, an ihm vorbei, den Baum hinauf. Ilari sah noch seinen feuerroten Schwanz in der Sonne blitzen, dann verschwand es im Dickicht der Blätter. Er lächelte. Gut gemacht, hast dich nicht zum Narren halten lassen. Ich jedoch werde jetzt zum König gehen, um mich bestrafen zu lassen. Ilari wusste, was ihm bevorstand. Er hatte am Vormittag mit Bork zusammen seinem Lehrer einen Streich gespielt, bei dem der heimtückische Fettsack der Länge nach in den Dreck gefallen war. Ilari und Bork hatten sich königlich dabei amüsiert. Deshalb hatten sich beide in den letzten Stunden unsichtbar gemacht. Doch Bork schien wie üblich gefunden worden zu sein. Er hatte kein Talent dafür, sich zu verbergen. Es war ihm entweder egal oder zu umständlich. So wie Ilari die Lage einschätzte, hatte sich Bork wieder als Verräter erwiesen, um seinen Strafen zu entgehen.
Wäre Bork nicht der Königssohn und Thronfolger des Landes, dann hätten ihn die anderen Söhne des Adels schon längst einmal die Hammelbeine lang gezogen. So aber ruhte sich Bork auf seiner Stellung aus. Er war hinterhältig und feige. Der Vater hatte Ilari schon tausendmal gewarnt, mit Bork herumzuziehen, denn alle ihre Unternehmungen hatten mit einer saftigen Strafe Ilaris geendet, der für alles alleine geradestehen musste. Bork übernahm nie die Verantwortung für irgendetwas, aber der Prinz hatte nun einmal die allerbesten Ideen und Ilari war im Überschwang ohne Zögern dazu bereit, sie sofort in die Tat umzusetzen. Zusammen waren sie unschlagbar und Bork belohnte ihn mit großzügigen Geschenken, wenn Ilari seine Strafe abgesessen hatte. Nicht umsonst war er im Besitz eines der schönsten Schwerter gelangt, die das Reich gesehen hatte. Bork hatte es für ihn anfertigen lassen, als er in den königlichen Verliesen eine Woche lang ausharren musste. Der König selbst besaß kaum ein besseres Schwert.
Als Ilari den Thronsaal betrat, abgehetzt und verschwitzt, die Haare klebten ihm an der Stirn und das Hemd war schweißig, sah er, dass sich der gesamte Rat eingefunden hatte. Alle schienen auf ihn zu warten. Er blickte angestrengt in die Runde und entdeckte neben dem König seinen Vater, Thorbjörn Helgison. Etwas weiter entfernt erkannte er Unna, die Tochter Olaf Tisdales, eines Jarls der nördlichen Länder, der ein mächtiger Herzog war. Unna lächelte ihm zu, bevor sie züchtig den Blick senkte. König Halfdan hatte ihren Blick gesehen und es gefiel ihm nicht, dass Ilari ihr Auserwählter zu sein schien. Das Gerücht um die zarten Bande, die sich zwischen den beiden entwickelten, schien richtig zu sein. Das erleichterte ihm alles. Er war sich jetzt ganz sicher, die richtige Entscheidung für Ilari getroffen zu haben. Nach diesem kleinen Auftritt musste er sich keine Gewissensbisse mehr machen. Ilari, der Sohn seines besten Freundes, stand ihm nahe. Halfdan mochte den Jungen, der stets die Strafen für die Eseleien seines Sohnes Bork auf sich nahm. Er hatte Rückgrat, das gefiel dem König. Doch Unna war Bork, seinem ältesten Sohn und Thronfolger, vorbehalten, auch wenn er die feste Zusage des Vaters noch nicht hatte. Aber Herzog Olaf dachte darüber nach. Der Jarl zögerte noch, weil er wie Halfdan wusste, dass Bork und Unna sich verabscheuten. Um so lieber hätte Olaf sie an der Seite Ilaris gesehen. Halfdan ebenso, er war schließlich kein Unmensch, aber die Staatsräson hatte Vorrang. Die jungen Leute hingegen schienen nichts von seinem Vorhaben zu ahnen, vielleicht noch Bork, der so überlegen grinste.
Es war König Halfdan unangenehm, ihn so überheblich herumstehen zu sehen. Bork war wie sein Großvater, König Ingvar, verschlagen und hinterhältig. Der alte König hatte keinen Wert auf die Loyalität seiner Untertanen gelegt, er hatte sein Volk eingeschüchtert und es unterdrückt. Das war ein ständiger Stein des Anstoßes zwischen Vater und Sohn gewesen. Halfdan hatte den Tod des Vaters kaum abwarten können, der ihn streng mit der Knute erzogen und ihm kaum Spielräume gelassen hatte, seine eigenen Vorstellungen zu verwirklichen. Als er die Regierungsgeschäfte übernahm, musste er eine Menge Überzeugungsarbeit leisten, die Jarle, wie in Norgan die Herzöge hießen, wieder gemeinsam an einen Tisch zu bringen. Aber Halfdan einte letztlich das Reich, aber er vergrößerte es nicht, daran lag ihm nichts. Er handelte Verträge mit den Jarlen und deren Landesfürsten, den Hersen, aus, die seine Macht festigten, und er sah über seine Grenzen hinweg auf nützliche Allianzen und Handelsbeziehungen. Halfdan war ein Friedenskönig, einer, der die gesellschaftlichen Missstände der Bevölkerung im Auge hatte, ein Reformer. Er war nicht gerne König, aber er diente dem Volk nach bestem Wissen und Gewissen.
Sein Sohn Bork wünschte sich bestimmt ebenso sehnlichst sein Ableben herbei, wie er damals das seines Vaters. Dann würde Bork alles, was er mühevoll aufgebaut hatte, mit einem Handstreich wieder zerstören, dachte sich Halfdan oft. Deshalb wäre eine intelligente Frau an seiner Seite das Wichtigste, was er ihm mit auf den Weg geben könnte. Halfdan wusste, dass er Bork in die Regierungsgeschäfte einbinden sollte. Der König hatte sich, da sein ältester Sohn Sigurd in jungen Jahren erkrankt und seitdem gelähmt war, auf seinen zweitgeborenen Sohn Bork als Nachfolger festgelegt. Diese Entscheidung riss jedoch schon in der Planungsphase unüberwindbare Gräben auf. Halfdan war entsetzt darüber, wie ablehnend die Reaktion der Untertanen auf einen Kronprinz Bork war.
„Bork hat finstere Ecken in seinem Kopf. Er hat nicht das Zeug dazu, ein vernünftiger König zu werden“, warnte ihn kürzlich Thorbjörn Helgison, Ilaris Vater und sein engster Berater und Freund.
„Ich weiß, aber was soll ich tun? Schließlich ist Bork mein Zweitgeborener. Ich kann mich nicht ohne Weiteres über ihn hinwegsetzten und Keldan, seinen jüngeren Bruder, zum Thronfolger ernennen.“
„Aber Keldan ist wie du, und du hast das Recht, ihn zu deinem Nachfolger zu erklären. Du musst es nur tun. Niemand wird sich deiner Entscheidung in den Weg stellen, zumal Keldan beim Volk wesentlich beliebter ist als Bork.“
„Ein König muss nicht beliebt sein“, antwortete ihm Halfdan erschöpft. Vor Thorbjörn brauchte er sich nicht zurück zu nehmen. Sie kannten sich, seit sie Kinder waren, und Thorbjörn, der ihn an Ausgeglichenheit und Ruhe noch übertraf, hieb mit seinen Argumenten immer in die richtige Kerbe. Sein Rat war ihm unersetzlich.
„Da stimme ich dir zu, Halfdan, aber ein König muss gerecht und ausgewogen sein, und du weißt wie ich, dass Bork eher das Volk unterdrücken würde, um seine Machtgier zu befriedigen, als im Interesse des Volkes zu regieren.“
Thorbjörn wusste, er rührte damit an einen empfindlichen Punkt. Aber er war der Meinung, dass man nicht oft genug darauf hinweisen konnte, wie schlecht Borks Charakter war. Er hielt sich deshalb nicht zurück, gerade weil er einen König Bork verhindern wollte.
„Verzeih bitte, Halfdan, wenn ich die Dinge beim Namen nenne. Bork ist ein Tyrann und ein Feigling, und unter einem König Bork würde es sich verflucht schlecht leben lassen“, fügte er mit Inbrunst hinzu. Thorbjörn sagte es mit ehrlicher Überzeugung, denn er dachte des Öfteren darüber nach, sich mit seiner Familie vielleicht woanders anzusiedeln, falls dieser Umstand eintreten würde. Er war noch jung und kräftig genug, um sein Leben völlig umzukrempeln. Was ihn hier in Torgan hielt, war einzig seine Loyalität zu König Halfdan Ingvarson, der ihn brauchte und mit seiner absoluten Unterstützung rechnete. Wenn Halfdan wirklich dabeibliebe, Bork als Thronfolger zu bestätigen, dann wäre es jedoch an der Zeit, seine Fühler in andere Richtungen auszustrecken.

Als Halfdan Bork so im Thronsaal stehen sah, dachte er über dieses Gespräch nach, das vor noch nicht zwei Tagen geführt worden war. Seitdem ging ihm die Zukunft Norgans nicht aus dem Kopf. Zwei Nächte lang hatte Halfdan nicht geschlafen. Sigrun, seine Frau, und er hatten diese Nächte mit Gesprächen verbracht.
„Bork hat viele schlechte Eigenschaften, aber die können verschwinden, wenn du ihm die richtige Anleitung gibst und ihn von deinen Vorstellungen überzeugst“, argumentierte Sigrun. Dabei hatte sie jedoch diesen bedenklichen Gesichtsausdruck, der ihn immer warnte, denn sie traute ihren eigenen Worten wohl nicht ganz.
„Und wenn du ihm eine starke Frau an die Seite stellst“, argumentierte sie weiter. „Ich habe dabei Unna im Sinn. Sie ist die Richtige und die richtige Tochter des richtigen Vaters, denn Olaf Tisdales Macht in den nördlichen Ländern stünde dir dann zur Verfügung.“
Halfdan lächelte. Seine Frau würde einen ordentlichen Strategen abgeben. Sie hatte völlig recht, ihm gefiele es schon, die Streitmacht Olafs hinter sich zu wissen.
Als der Morgen graute, waren die Würfel gefallen. Bork sollte Unna zur Frau haben, wenn Olaf zustimmte. Über eine mögliche Heirat ihrer beider Kinder hatten Halfdan und Olaf schon einige Male geredet. Aber Olaf hatte jedes Mal gezögert, ihm eine Antwort zu geben. Olafs Schweigen irritierte ihn, aber Halfdan wusste, dass Olaf seine Tochter Unna liebte und sich sehr wohl Gedanken machte, ob er sie aus einer machtpolitischen Überlegung heraus verheiraten sollte. Außerdem hatte Olaf König Halfdan darauf hin gewiesen, dass sich Ilari von Unna angezogen fühlte und Unna seine Gefühle erwiderte.
Als Sigrun ihren Mann im Morgengrauen so zögern sah, ahnte sie, dass es um Unna und Ilari ging. Das halbe Reich plauderte schon von einer Verbindung zwischen den Kindern des großen Jarl Olaf Tisdale und seines besten und loyalsten Hersen, Thorbjörn Helgison. Alle hießen es gut, denn sowohl Unna als auch Ilari hatten ihre wohlmeinenden Fürsprecher.
„Sie wären ein wunderschönes Paar, Unna und Ilari, das weiß ich wohl, aber es wäre nicht in unserem Interesse. Glaube mir, mein Gatte, du musst eine Lösung finden, Ilari außen vor zu halten.“
Halfdan nickte gedankenverloren. Er ersann gerade eine Lösung und war sich nur nicht so sicher, ob sie Thorbjörn gefallen würde. Er musste dringend mit ihm reden.
Als Thorbjörn wenig später von König Halfdans Plänen hörte, wurde er sehr lange sehr still. Er schwieg bedeutsam und Halfdan lehnte sich in seinem Sessels zurück, denn er wusste, es war besser, Thorbjörn nicht beim Denken zu stören. Dann kam wieder Leben in den Freund und Thorbjörn schien von einer weiten Reise zurückgekehrt zu sein.
„Wenn unsere Söhne zusammen sind, dann wage ich nicht darüber nachzudenken, was sie in ihrer Freizeit alles anstellten. Mein Ilari ist deinem Bork auf keinem Gebiet gewachsen, besonders nicht, wenn es darum geht, finstere Intrigen zu spinnen und sie in die Tat umzusetzten. Ilari hält immer mit und erst im Rückblick erkennt er alle Zusammenhänge. Trotzdem hält er zu Bork. Er behält sogar dann einen kühlen Kopf, wenn er begreift, wie ihn Bork benutzt hat. Ilari weiß seit einiger Zeit, wie es um seine Freundschaft zu Bork bestellt ist, und der Umgang mit ihm behagt ihm schon seit längerem nicht mehr“, sagte Thorbjörn nachdenklich und blickte dabei Halfdan nicht in die Augen, sondern ließ seinen Blick durch ein Fenster auf den Hof hinauswandern. Es war zu privat, was er jetzt in Gegenwart seines Freundes, der auch sein König war, von sich gab. Halfdan nutze Thorbjörns kleine Pause.
„Bork behauptet immer, er mag Ilari. Er bezeichnet ihn gerne als seinen besten Freund, und das kommt aus seiner Sicht einer Art Zuneigung sehr nahe“, bemerkte Halfdan vorsichtig. „Dein Sohn hat, so glaube ich, nichts von Bork zu befürchten. Trotzdem weiß ich um die Konkurrenz der beiden jungen Männer um meine Gunst und ich weiß auch, dass Bork sich der Überlegenheit deines Sohne bewusst ist. Ilari besitzt unerschütterliche Selbstsicherheit und einen unerschrockenen Mut. Das wirft einen Schatten auf die Beziehung der beiden. Und ich bin mir sehr sicher, dass Bork von der Zuneigung Unnas zu Ilari weiß. Wenn ich mich nicht irre, wäre er es gerne, der Unna heiraten darf. Wenn ich mich mit Olaf einige, dann wird die Freundschaft der beiden einen großen Riss erfahren, einen gefährlichen, den ich, solange ich lebe, noch zu kitten vermag. Aber wenn Bork mir als König nachfolgt, wird es für Ilari schwierig werden. Daher mein Vorschlag, über den ich dich bitte, sorgfältig nachzudenken.“
„Ich denke darüber nach, aber ob ich dir dazu eine Antwort gebe, vermag ich nicht zu versichern.“
Halfdan blickte Thorbjörn direkt in die Augen, denn er erwartete endlich eine Antwort von ihm, aber die verweigerte ihm Thorbjörn. Er hatte das Empfinden, hier sein eigenes Recht wahrnehmen zu müssen, denn es ging um die Zukunft seines Sohnes. Die beiden Männer sahen sich an. Sie kannten sich und sie waren beide sehr ehrlich miteinander. Zeit ihres Lebens hatten sie sich nicht betrogen. Daher wusste Thorbjörn, ohne dass es der Freund erwähnen musste, dass sich Halfdan für Bork als Nachfolger und aus Staatsgründen für Unna als Schwiegertochter entschieden hatte. Herzog Olaf war mit seinen Ländereien zu wichtig für den Erhalt der Regentschaft des Königs, als dass er es sich erlauben konnte, das Mädchen an Ilari zu verlieren. So weit konnte er Halfdan folgen. Aber er wollte trotzdem nicht seinem Sohn im Wege stehen und verweigerte Halfdan daher seine Zustimmung zu dessen Vorschlag, Ilari in den Westen nach Amber zu schicken. Sollte Olaf seine Entscheidung fällen, ob er Ilari oder Bork als Schwiegersohn wollte. Doch ahnte Thorbjörn, dass sich König Halfdan über alles hinwegsetzen würde. Und er würde mit Ilari anfangen.
Als Ilari in den Thronsaal gerufen wurde, bekam Thorbjörn ein mulmiges Gefühl. Hier würde etwas beschlossen werden, das ihm das Herz zerreißen könnte und gegen das er sogar als Vater keinen Einspruch erheben konnte, ohne seine Beziehung zu Halfdan und die Stellung der Familie Helgison zu gefährden.

Der König sah genauer auf den jungen Mann, der nun vor ihm stand. Verschwitzt und störrisch, mit einer Haltung, die ihm jeglichen Respekt verweigerte. Ilari war ein harter Brocken. Mit seinen knapp neunzehn Jahren war er ruhig und besonnen. Er erschien älter als Bork, war es aber nicht. Zudem schien er endlos hochgewachsen zu sein. Seine flachsblonden Haare trug er etwas zu lang, aber gerade als er sie aus der Stirn strich, konnte man das kantige Gesicht des jungen Mannes erkennen, zu dem er sich herausgewachsen hatte. Ein hübscher Mann, nein, ein gut aussehender, genau wie der Vater, dem Borks Mutter immer hinterhergesehen hatte. Halfdan wusste, dass der Junge verlässlich und umgänglich war. Er stand zu seinem Wort, war klug und strebsam. Nur ein wenig zu wild und störrisch für seinen Geschmack, besonders wenn er sich im Überschwang mitreißen ließ, zum Beispiel von seinem Sohn. Aber daran konnte er noch wachsen. Wenn er dieses Temperament einmal abgelegt hätte, dann würde er sich dem Reich mit derselben Hingabe widmen wie der Vater. Dazu war es aber notwendig, dass er ausgebildet wurde und vor allen Dingen erst einmal verschwand. Denn Unna würde, wenn Bork sie heiraten wollte, sicher Ärger machen, wenn Ilari sich hier in Norgan aufhielte. Halfdan kannte ihr widerspenstiges Wesen. Daher hatte er Kraft seines Amtes, er war schließlich der König von Norgan, beschlossen, Ilari zu König Bornwulf Paeford an dessen Hof in Dinora zu schicken. Dort würde er die Sprache erlernen und den letzten Schliff bekommen. Er bekäme Einsicht in die Geschäfte des Königs Bornwulf, was Halfdan nur recht wäre. Er war der Meinung, man müsste die Sitten und Gebräuche anderer Länder gut kennen, wenn man später mit ihnen verhandeln sollte. Genug Gründe also, die dafür sprachen, dass Ilaris Schicksal beschlossene Sache war, was auch immer der Junge selbst oder sein Vater davon hielten.
„Komm, tritt näher, Ilari“, bat er und winkte kurz mit der Hand. Ilari sah sich ein wenig verunsichert um. So schwerwiegend war sein Vergehen doch nicht gewesen, dass der ganze Thronrat anwesend sein muss, dachte er sich. In dem Moment, als er vor Halfdan stand und diesen abschätzenden Blick auf sich spürte, wusste er, dass er wegen wichtigerer Dinge gerufen worden war. Er entspannte sich, denn heute würde er nicht bestraft werden. Er sah, dass der König etwas mit ihm vorhatte. Er bemerkte dieses Blinzeln in den Augen des Monarchen, das er immer hatte, wenn er Freunden und Bekannten eine wichtige Ankündigung machte. Der Vater, dem er es einmal erklärte, lächelte nur über den Scharfsinn des Sohnes. Denn Ilari hatte recht. Auch Thorbjörn kannte dieses Blinzeln. Nur leider wusste er, dass demjenigem, dem Halfdan es schenkte, kein Gefallen getan wurde. Thorbjörn, der neben dem König stand, trauerte schon jetzt um den Sohn. Thorbjörn ahnte, Ilari würde schon nächste Woche in Richtung Dinora unterwegs sein und erst in einigen Jahren als erwachsener Mann zurückkehren. Er hoffte nur, dass Ilari sich nicht gegen den Beschluss des Königs auflehnen würde. Der Vater kannte das Temperament seines Sohnes und er wusste um dessen heimliche Zuneigung zu Unna. Ilari hätte schnell herausgefunden, weswegen er gehen musste. Und da geschah es auch schon.

„Ich soll weggehen nach Dinora? Norgan verlassen?“, fragte Ilari zornig und stutze. Er blickte auf den Vater, dann auf Unna und wusste sicher, dass sie der Grund war. Denn er hatte Borks hochroten Kopf gesehen, den er immer bekam, wenn er bei einer Eselei oder Untat ertappt wurde oder sich eine Gemeinheit ausdachte.
Ilari dachte kurz nach und verstand. Er musste gehen, damit er nicht im Weg stand, wenn Unna demnächst Königin wurde, Borks Königin. Ilari erschrak, weil er wusste, dass Unna Bork verabscheute. Sie fand ihn lächerlich und hasste seinen hinterhältigen und unzuverlässigen Charakter. Er ist so falsch wie ein Dachs, sagte sie ihm einmal, und Ilari sah, dass sie Recht hatte. Und Bork machte sich nichts aus Unna, beide hatten es ihm einmal gestanden. Damals hatte er mit Unna darüber gelacht, und sie hatten zum ersten Mal ihre Zuneigung bemerkt , die von da an wuchs. Ilari dachte sich, er wäre eine gute Partie für die Familie des Herzogs, aber gegen einen Königssohn, und sei er auch noch so verdorben und dumm, konnte er nicht konkurrieren. Trotzdem wollte er nicht einfach widerspruchslos einlenken. Jarl Olaf, Unnas Vater, beobachtete interessiert den Jüngling, zu dem sich seine Tochter hingezogen fühlte, und musste unwillkürlich lächeln. Er ahnte, was in Ilari vorging, aber die Würfel waren gefallen. Es hatte keinen Sinn mehr zu rebellieren.
Junge, du wirst nichts erreichen, gebrauche deinen Verstand, überlegte er. Ein erwachsener Mann wüsste, wann er geschlagen wäre, aber dieser junge, tollkühne Heißsporn versuchte es tatsächlich. Er beobachtete, wie Ilari zum Einspruch Anlauf nahm.
„Mit Verlaub, Mylord, ich sehe keinen Grund, nach Dinora zu reisen. Ich will hier bleiben und euch hier weiter dienen.“
Ilari äußerte sich laut vernehmbar und sah dem König in die Augen, die dieser jetzt zusammenkniff. Oho, jetzt will er mich erst recht loswerden, dachte Ilari und hatte recht damit.
„Nun Ilari,“, sagte der König mit tiefer und ruhiger Stimme, „es ist im Sinne des Reiches, dass du nach Dinora gehst. Wenn du in einigen Jahren wieder zurückkehrst, dann wirst du ein wichtiger Mann sein mit unschätzbaren Erfahrungen und Wissen. Ein Botschafter deines Landes. Dafür wirst du dann auch reich belohnt werden von mir.“
Der König lächelte immer noch, aber Ilari zog die Augenbrauen zusammen. Er zog sie so tief in sein Gesicht, dass Thorbjörn wusste, der Sturm war nicht mehr aufzuhalten. Er wollte eingreifen, als er den Sohn schon sprechen hörte.
„Bei allem Respekt, Mylord, ich werde keinesfalls nach Dinora gehen. Hier lebt meine Familie und ihr fühle ich mich zuallererst verpflichtet und eine Belohnung für meine Unterwürfigkeit will ich auch nicht haben, wenn ich wieder zurückkomme. Ich bin es nicht gewohnt, mich unterzuordnen und mich auch noch dafür bezahlen zu lassen. Ihr findet sicher einen bessern Kandidaten unter den Söhnen der großen Familien als mich, euer Land in Tamweld zu repräsentieren. Ich mache immer nur Ärger, Herr, das wisst ihr ganz genau. Ihr habt mich zu oft bestraft, als dass es euch entgangen sein könnte. Ich werde in Dinora sicher einen schlechten Eindruck hinterlassen und ein Botschafter meines Landes bin ich weder hier noch dort“, argumentierte Ilari und sah abwartend auf den König, dessen Unterkiefer zu mahlen begann, als ob er einen aufkeimenden Ärger hinunterwürgen wollte.
Du bist es leid, dich mit mir auseinanderzusetzen, ich bin dir lästig, du musst mich loswerden, ohne dein Gesicht zu verlieren, aber was glaubst du, was ich für eine Wut in mir habe, dachte sich Ilari und brachte nicht das allergeringste Verständnis für Halfdan Ingvarson auf. Er sah die Verblüffung des Königs, der erstaunt Ilari anblickte, aber schon nach einigen Sekunden wieder die Fassung gewann. Das ist schlecht, denn jetzt habe ich verloren. Er wird mich über das Meer schicken, dachte Ilari. Er ist der König und nicht einmal Vater wird sich gegen diese Entscheidung stellen.
„Nun mein Junge“, begann Halfdan noch gezügelt, sah aber gleichwohl Zorn und Einspruch in Ilaris Augen und fuhr deshalb nur noch schwer gedrosselt fort. „Dort wirst du sicher einen königlichen Eindruck hinterlassen, wenn du erst einmal alleine auf dich gestellt in einer fremden Umgebung mit fremden Sitten und Gebräuchen ohne Freunde und Familie bist. Dann wirst du schon etwas kleinlauter werden, davon bin ich überzeugt. Denn keiner wird dich mehr beschützen und vor Unbilden bewahren. Du wirst dann deine Worte auf die Goldwaage legen müssen, bevor du sie jemandem mitteilst. Außerdem wird man dich anfangs einfach nicht verstehen. Du bist dann sozusagen so sprachlos, wie du es hier schon besser gewesen wärst“, schäumte der König angesichts dieser jugendlichen Halsstarrigkeit. Unna musste unwillkürlich lächeln. So hatte sie den König noch nie gesehen. Seine Stimme überschlug sich beinahe. Alle standen still und gefesselt im Saal, als Ilari gänzlich unbeeindruckt von des Königs Ärger erneut zornig die Stimme gegen Halfdan erhob. Und diesmal nahm er kein Blatt vor den Mund.
„Also ich werde hier ganz sicher niemals von irgendwem geschützt. Im Gegenteil, immer muss ich die Sünden eures Sohnes ausbaden, der sich hinter meinem Rücken versteckt. Es wäre besser, ihr würdet ihn nach Amber schicken, damit er dort zum Manne heranreift, denn dann würde sein Charakter geformt. Meiner hat schon seine endgültige Gestalt erhalten und die gereicht mir nicht zur Schande“, stieß der junge Mann aufgebracht hervor.
Die älteren Herren im Thronsaal sahen amüsiert auf den Jüngling, der sich gerade in Grund und Boden argumentierte. Unnas Vater war überrascht und erkannte, dass er diesen Jungen lieber an der Seite seiner Tochter gesehen hätte. Sie hatte ein feines Gespür, dachte er anerkennend. Aber sie hatte nun einmal die Möglichkeit, Königin zu werden. Irgendwie würde er sich Bork schon hinbiegen, hoffte er, ohne Illaris recht knappe Zusammenfassung des Charakters seines zukünftigen Schwiegersohnes außer Acht zu lassen.
Die Situation drohte zu eskalieren, da niemand einschritt. Der König und Ilari hatten sich beide in ihrem Zorn festgefahren. Es war allen Anwesenden klar, doch in den unwiederbringlichen Sekunden, die tatenlos verstrichen, ritt sich Ilari noch tiefer in die Ungunst des Königs hinein, denn er begriff ebenfalls, dass er verloren hatte. Alles war ein abgekartetes Spiel. Unna und Bork würden heiraten, wahrscheinlich während er dem Reich fern war. Ihm war jetzt alles egal und deshalb setzte er alles auf eine Karte. Ilari hatte nur diese eine Gelegenheit, die Frau zu gewinnen, mit der er sein Leben verbringen wollte. Er musste den Grund seiner Abreise auf den Tisch bringen hier und jetzt, sonst würde er vor Ekel vergehen. Also holte er Luft, fasste einen tollkühnen Plan und brachte den Mut der Verzweiflung auf. Er setzte dem König weiter zu.
„Mylord, nennen wir den Grund für euer Handeln beim Namen. Euer unermüdliches Schweigen darüber macht die Sache nicht besser. Ihr braucht, um euer Reich und eure Macht zu stärken, die nördlichen Länder, die dem Herzog Olaf unterstehen. Dafür wollt ihr ein starkes Bündnis schmieden und am besten geht das, wenn Familienbande geknüpft werden. Auf dem Schachbrett eurer Regierung stehen Unna und Bork, euer Sohn, und ich. Euch wäre es gleichgültig, wen Unna heiratete, wenn ihr sie nicht bei eurem wichtigsten Schachzug benötigtet. Sie ist die Dame, die euer Reich stärken wird, auch wenn euer Sohn sie gar nicht will. Ich aber will sie zur Frau haben, und sie hätte auch nichts dagegen, wenn sie die freie Wahl hätte. Nur weil ihr eure Macht in die Waagschale werft und alle Männer um ein wenig mehr Einfluss kämpfen oder euch einfach zu Kreuze kriechen, werden junge Menschen von euch gegen ihren Willen verschachert. Aber mit mir könnt ihr nicht so verfahren.“
Ilaris Gesicht war hochrot angeschwollen, er war kurz davor, sein Schwert zu ziehen und es gegen den König zu richten. Sein Temperament war so ungezügelt, wie er es vorher noch nie erfahren hatte. Niemand schien ihn mehr bremsen zu können, und alle Anwesenden sahen gebannt auf die Szene, die ungeheure Fahrt aufgenommen hatte.
„Schluss, Junge!“ mischte sich Thorbjörn ein, der noch schlimmeres Unheil für seinen Sohn befürchtete. „Du wirst nach Amber gehen an König Bornwulfs Hof in Tamweld, weil ich das will. Ich habe für dich die Entscheidung getroffen, denn du bist noch nicht erwachsen“, rief der Vater und beendete damit Ilaris Ausbruch. Der junge Mann zögerte, war erst erstaunt und dann entsetzt über die Entscheidung seines Vaters. Ilari stand am Abgrund und es fehlte nicht viel, dann würde er stürzen. Gerade das versuchte der Vater zu verhindern. Alle Anwesenden sahen es. Auch Herzog Olaf versuchte, für Ilari einzutreten.
„Es ist doch ganz erstaunlich, mit welcher Wucht der Zorn eines jungen Mannes ausbrechen kann. Er hat Mut, dein Sohn, Thorbjörn“, sagte er lächelnd zu Thorbjörn. „Das soll ihm nicht zum Unheil gereichen. In einigen Jahren, wenn er gelernt hat, sich zu beherrschen, wird er eine Bereicherung für das Reich und die Regentschaft Borks und Unnas werden, nicht war, König Halfdan?“
Damit hatte Olaf den König unterstützt und öffentlich seine Zustimmung zum Vorschlag des Königs gegeben. Der war zwar immer noch aufgebracht, weil dieser Hitzkopf ihn vor seinem Thronrat angegriffen hatte. Aber er erkannte die Jugend des Jungen und gleichzeitig bekam er die Zustimmung des alten Jarls zur Vermählung der Kinder, die er wochenlang aufgeschoben hatte. König Halfdan schüttelte die Wut auf Ilari ab, fing an, dessen Mut zu schätzen, und verzieh ihm im Überschwang sofort. Er verstand ihn, denn Unna war wahrlich ein schönes Mädchen. Er war auch einmal jung gewesen und hatte sich unsäglich in eine Zofe der Mutter verliebt. Fast hätte er sein Reich für sie hingegeben, aber einige Jahre später wunderte er sich nur über seine Gefühle. So würde es Ilari ergehen, und er freute sich augenblicklich auf die Jahre, wenn er wieder nach Norgan zurückgekehrt wäre. Er stand auf, ging versöhnlich auf Ilari zu und legte ihm den Arm um die Schulter, den der Junge nur schwer ertrug. Halfdan spürte es, war dem Jungen aber nicht Gram. Er versicherte ihm und dem hinzugetretenen Vater noch einmal seines Verständnisses und winkte den Musikern aufzuspielen. Dann ging er zu Jarl Olaf und vergaß die unerquickliche Episode.
Ilari hatte immer noch seine Augenbrauen zusammengezogen. Er konnte seinen Ärger kaum verbergen und die umstehenden Männer lächelten. Die meisten waren ihm gewogen und hofften, sie kannten seine Freundschaft zu Bork, dass die Allianz der beiden in einer vernünftigen Regentschaft Borks enden würde. War der scharfe Verstand Thorbjörns Sohns doch so unschätzbar für alle. Wenn nur Unna nicht dazwischenfunkte und dem allem ein Ende setzte. Sie stand nachdenklich am Türrahmen gelehnt und sah sich im Thronsaal um. Dabei fiel ihr Blick sehr oft auf Ilari.

Überfahrt nach Amber

Ilari stand an der Reling des Schiffes, das ihn nach Amber trug. Er erwachte wie aus einem Traum, denn immer, wenn er seine Gedanken schweifen ließ, standen ihm die Ereignisse der letzten Tage in Norgan vor Augen. Sein instinktloses Beharren hatte ihm den Zorn König Halfdans eingebracht und die Ausweisung aus Norgan.
Die Ratschläge seines Vaters kamen ihm ständig in den Sinn. Thorbjörn riet ihm, sich in der Fremde besser zurückzuhalten. Ein Wort, das auf der Zunge brannte, dort brennen zu lassen und lieber aufmerksam die Situation zu erkunden. Zu wissen, wann man sich besser aus dem Staub machte, wenn die tandhenischen Horden wieder ihr Unwesen trieben. Sich unverbrüchlich zu verbünden und Freunde zu suchen. Oder wenigstens, wenn das nicht fruchtete, sich den Respekt der Menschen in Tamweld, in König Bornwulfs prächtiger Hauptstadt, zu erwerben.
Es hatte geregnet in Torgan, König Halfdans Hauptstadt, als das Schiff ablegte. Seine Mutter stand trauernd im Hafen, der sich eifrig für den Markttag bereit machte, und sah zu ihm herauf. Ilari liebte den Markttag, er verpasste ihn nie. Erst hier auf dem Schiff kam ihm in den Sinn, wie schön sein Leben doch bisher gewesen war und wie schnell Halfdan es ihm zerstört und vor die Füße geworfen hatte. Vor noch nicht einmal einer Woche war er mit seinem Leben rundum zufrieden gewesen und jetzt dachte er mit Grauen an die Zukunft.

Das Schiff brauchte acht Tage, um die Westküste Ambers zu erreichen. Sie kamen in einen Sturm und Ilari erbrach sich anfangs häufig. Am dritten Tag ging es ihm besser. Er freundete sich mit den Männern an, die ihn dafür liebten, dass er keinen Unterschied machte: Er, der Sohn eines Hersen und Mündel des Königs, saß bei ihnen wie jeder andere. Die Händler, die mit ihm nach Amber fuhren, machten einen großen Bogen um das gemeine Schiffsvolk, aber Ilari hatte keine Lust auf ernste Gespräche mit ihnen, bei denen er immer die Rolle des unerfahrenen Grünschnabels zugewiesen bekam. Von den Seeleuten erfuhr Ilari einiges über ihr Leben und lernte ihre Sorgen kennen. Er war beeindruckt, wie wenig Zeit diese Männer zu Hause bei ihren Familien verbrachten und wie sehr sie ihre Kinder vermissten. Sie hatten von seiner unerfüllten Liebe zu Unna gehört und Ilari sah, dass er damit nicht alleine stand. Die Hälfte dieser Männer hatten ihre Angebetete nicht zur Frau bekommen, waren eine Zweckehe eingegangen, wie es die Edelleute praktisch immer taten, und kamen trotzdem gut mit ihren Frauen aus.
„Setze dich, junger Freund“, bat ihn der Bootsmann am dritten Tag, als Ilari seine Übelkeit hinter sich gelassen hatte. Ilari, der mit sich alleine nichts anzufangen wusste, kam dieser Bitte gerne nach und gleich darauf saß er mit den Männern zusammen, die scheinbar vollkommen zufrieden waren.
„Du siehst noch ein wenig blass aus um die Nase“, stichelte einer der Männer, ein wettergegerbter Älterer, freundlich. „Das wird bald besser werden. Wenn du wieder Appetit bekommst, bist du über den Berg.“
„Bist wohl noch nicht so weit herumgekommen auf einem Schiff?“, fragte ihn ein anderer freundlich. Ilari war erstaunt, wie interessiert die Männer an ihm waren, und er entspannte sich. Er versuchte, die letzte, verdorbene Woche zu vergessen und vor allen Dingen Unna, die er schrecklich vermisste. Das musste ihm wohl auf der Stirn geschrieben stehen, denn einer der Männer lachte mitfühlend und sagte: „Das wird schon. Wenn du lange genug fort bist, hast du das Weibsbild bald vergessen. Sie wird ja sowieso einen anderen heiraten. Mit dem konntest du nicht konkurrieren, denn alle Frauen wollen gerne eine Königin sein.“
Ilari war erstaunt, dass die Männer offensichtlich von ihm und Unna wussten. Das machte ihn verlegen. Aber sie ignorierten seine Verlegenheit und sprachen einfach weiter.
„Wir haben das alle durchgemacht, bis auf Eskil, der hat das Mädchen bekommen, das er immer schon heiraten wollte. Aber wir anderen mussten uns in unsere vermaledeite Lage einfinden.“
Die Männer lachten, als sie sein fassungsloses Gesicht sahen, und Ilari schüttelte erstaunt den Kopf.
„Man gewöhnt sich“, sagten sie. „Und Weibsbilder gibt es überall auf der Welt, manche sogar schöner als zu Hause. Jeder von uns hat die eine oder andere Geliebte in einem der ausländischen Häfen. Und die haben Kinder von uns in die Welt gesetzt. Gesunde kleine Racker, was wünscht sich ein Mann mehr. Wenn die amberländischen Frauen nur nicht so gläubig wären. Ständig beten sie zu ihren Göttern in ihren Tempeln, die wie Pilze aus dem Boden sprießen. Sie bauen ihre Tempel an jeden freien Platz und statten sie fürstlich aus. Die Reichtümer, die in diesen Gebetshäusern stehen, sind verführerisch. Schon sehr oft haben sich Kapitäne aus dem Norden auf den Weg gemacht, diese Priesterhäuser und Tempel zu plündern.“
„Und das ist ein einträgliches Geschäft“, erwiderte ein anderer zustimmend. „Ich war schon mehrmals bei einer solchen Plünderung dabei, obwohl Halfdan verboten hat, sich daran zu bereichern. Aber das ist so manchem norganischen Kapitän egal und den Tandhenern gleich gar. Die Tandhener haben mächtig eingesackt im Laufe der Jahre. Dan Asgerson und sein Bruder Leif, die Söhne des Königs Asger Sverrison in Tandhen, haben sich fest in Amber eingenistet und die ganze Osthälfte des Reiches steht nun schon unter ihrer Regentschaft.“
Wieder lachten die Männer, aber es machte sich eine gewisse Nachdenklichkeit unter ihnen breit, und Ilari ahnte, dass es bei ihnen immer darum ging, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, bevor sie zu alt und zu schwach waren, um sich ins gemachte Nest zu setzen. Da käme ihnen der eine oder andere Raubzug schon mächtig gelegen. Aber diese Nachdenklichkeit hielt nicht lange vor. Sie hatten schließlich einen adeligen, jungen Herrn in ihrer Mitte, der sich nicht zu schade war, bei ihnen zu sitzen. So fühlten sie sich gezwungen, ihm möglichst viele Ratschläge mit auf den Weg zu geben. Schließlich musste der arme Kerl für ganz lange Zeit alleine sein Schicksal meistern. Ilari sog alle Worte in sich auf wie ein trockener Schwamm.
„Wenn du das Schiff verlassen hast, musst du über Land weiterreisen bis nach Tamweld im Königreich Dinora“, sagten sie ihm.
„Ein König Bornwulf regiert dort, ein kleiner und schwacher Mann, ein Dinoraner eben, der außer mit unserem König eine lockere Allianz mit dem König Erjk aus Sweba eingegangen ist, um bequem weiterzuleben. Aber du wirst ihn ja persönlich zu Gesicht bekommen, du als Sprössling einer Adelsfamilie. Lass dich aber nur nicht bekehren. Das ist langweilig, denn dann musst du ständig beten, wie es unsere Weiber in Amber dauernd tun.“
Die Männer lachten, als sie sein erstauntes Gesicht sahen, und schlugen ihm freundschaftlich auf die Schulter.

Ein feiger Überfall

Ilari ging von Bord, als die Boten des Königs eintrafen, die ihn nach Tamweld bringen sollten. Er verließ das Schiff und wurde von einer Gruppe Dinoraner erwartet. Es waren dunkle Männer, kleiner als er, die ihn grimmig musterten. Ilari stand verloren vor den sechs Männern, die einen Kreis um ihn zogen. Wollten sie ihn schützen oder ihn einkreisen, fragte er sich und kam zu keinem Schluss, denn ein junger Mann bahnte sich seinen Weg durch die Wand der Soldaten, die ihn umringten. Ilari bemerkte ihn schon, ehe die Leiber der Männer eine Gasse bildeten, denn der junge Mann war hochgewachsen wie er und hell. Er hatte strahlend blaue Augen und einen aufgesetzt, arroganten Gesichtsausdruck, der Ilari noch weniger gefiel als die grimmigen Gesichter der dunklen Soldaten. Er trat auf ihn zu und legte ihm die Hand auf die Schulter.
„Folge mir zu den Pferden, Fremder. Mein König schickt mich, dich zu ihm zu bringen. Da wir Blonden nicht sehr beliebt hier sind, sollten wir uns beeilen, um den herumstehenden Männern keine Gelegenheit zu geben, über uns nachzudenken. Die Schlüsse, die sie daraus ziehen könnten, wären sicher nicht in unserem Sinn.“
Er sagte es in einem perfekten Tandhenisch, das Ilari von zu Hause kannte und daher gut verstand. Doch es irritierte ihn, dass ein Dinoraner ihm so sehr glich und sich ausdrückte, als spräche er Tandhenisch als Muttersprache.
„Woher kommst du, sage es mir oder ich gehe keinen Schritt weiter“, befahl ihm Ilari und blieb stehen, denn er befürchtete schon, den Tandhenern in eine Falle gegangen zu sein. Der Vater hatte ihn davor gewarnt und darauf hingewiesen, dass man in der Nähe eines Meeresufers vor den Tandhenern nie sicher sein konnte.
Der Blonde blieb für einen Augenblick stehen und ging dann weiter, ohne sich um Ilari zu kümmern. Im Gehen warf er ihm nur einen gehässigen Brocken zu.
„Du kannst gerne bleiben, wenn du aufgeknöpft werden willst. Ich rette dich nicht, denn ich bin mit meinen Männern dann schon Meilen weit entfernt. Aber es ist deine Entscheidung und dein Leben. Mit König Bornwulf komme ich schon klar, wenn ich ohne dich nach Tamweld komme, darüber musst du dir keine Gedanken machen.“
Ilari hörte es und war sich zuerst unsicher, besann sich jedoch eines Besseren, als der blonde Hüne hinter einer Hausmauer verschwand. Ilari ging ihm zügig hinterher und das halbe Dutzend dunkler Männer folgte ihnen. Als er bei dem Fremden und den Pferden ankam, grinste ihn der sehr junge Mann wohlwollend an. Er schien keinen Groll mehr gegen ihn zu hegen.
„Ich heiße Oskar“, sagte er und bat Ilari aufzusteigen. Er gab den Soldaten einige Anweisungen und ritt dann ungestüm los. Er hielt auf grüne, saftige Wiesen zu, die sich endlos erstreckten und deren Baumlosigkeit Ilari zuerst erstaunte und später langweilte, denn die Wiesen schienen nicht enden zu wollen.
Als die Gruppe den ersten Baumbestand erreichte, gelangten sie auch schon an die Grenze Dinoras. Dort am Grenzzaun standen dutzende, dunkler Wachleute, die Ilari noch unfreundlicher ansahen als die sechs, die mit ihm ritten.
Ilari fühlte sich zusehends unwohl, denn was würde wohl geschehen, wenn diese vielen Männer die Geduld mit ihm verlören? Hätte er Unterstützer und würden die sieben Dinoraner, die ihn begleiteten, wirklich Kopf und Kragen für ihn riskieren? Er glaubte zu wissen, dass sie sich aus dem Staub machen würden. Doch was der Tandhener täte, war ungewiss. Er konnte ihn bis jetzt nicht einschätzen, aber das gelang ihm bei Tandhenern sehr selten. Sie überschritten die Grenze Dinoras, eines Landes, das ihm mit seinem Baumbestand besser gefiel als das grasbewachsene Kelis, das sie hinter sich gelassen hatten.
„Wie lange dauert es noch, bis wir Tamweld erreichen?“, fragte Ilari den Tandhener Oskar.
„Etwa vier Tage lang, denn Dinora ist das größte Land auf Amber und König Bornwulf Paeford ein mächtiger König“, sagte Oskar arrogant und ritt ein wenig weiter nach vorne. Er wollte nicht mehr mit dem Norganer sprechen. So ritt Ilari in seinem Windschatten und ärgerte sich. Er spürte die Fremdheit und Machtlosigkeit, die ihn umgab und die ihm so ungeheuer unangenehm war.
Am zweiten Tag verschwand die Einsamkeit und Unruhe ein wenig und Ilari konnte die Landschaft mit großen Augen betrachten. Das Land hier war schon mitten im Frühlingserwachen, dabei schmolzen bei ihm zu Hause erst die letzten Schneeflecken weg. Es war schon angenehm warm und in der ersten Nacht schlief Ilari ohne die ihm zugewiesene Decke, denn er war kältere Nächte gewohnt. Der Morgen begann früh hier im Süden, und Ilari musste, als er nach der zweiten Nacht aufwachte, unwillkürlich lächeln, denn die aufgehende Sonne hatte ihn schon frühzeitig wach gekitzelt. Die Nacht hatte sich noch nicht ganz zurückgezogen. Ein Hauch der Sonnenstrahlen dieser ungeduldigen Sonne war schon zu sehen, als der taufrische Morgen graute. Da hörte Ilari ein sich Regen und sich Bewegen um sich herum. Das war ungewöhnlich, und wäre er nicht fremd gewesen hier, er hätte es sicher nicht bemerkt. So aber war er sich sicher, dass sich jemand an ihrem Lager zu schaffen machte. Er drehte sich um wie im Schlaf und rüttelte leise Oskar wach. Der kannte dieses Land und wusste sicher, was zu tun war. Als Ilari ihn leicht berührte, war Oskar sofort wach und hörte in die Nacht hinaus. Dann robbte er leise zu Ilari und flüsterte ihm ins Ohr.
„Greife dein Schwert und auf mein Zeichen stürme nach vorne. Versuche, die Pferde zu erreichen, und dann nichts wie weg von hier. Versuche nicht, mit den Männern zu kämpfen. Es sind zu viele. Du weißt doch noch, wo die Pferde stehen?“, fragte Oskar ihn leise. Ilari nickte, er hatte nicht vor, zu viele Worte zu machen, denn sein Puls schlug so heftig, dass er glaubte, er spränge aus seiner Brust heraus.
Oskar stand leise auf und Ilari tat es ihm gleich. Dann nickte Oskar und beide liefen augenblicklich zu den Pferden, saßen auf und ritten in den aufkeimenden Tag hinein. Sie hörten den Tumult, der hinter ihnen entstanden war, und erkannten nun auch einzelne Stimmen der Männer, die Ilari eigentlich sicher nach Tamweld geleiten sollten. Ilari ritt vertrauensvoll immer hinter Oskar her. Als er versuchte zu ergründen, warum der Überfall erfolgt war, rief ihm Oskar atemlos entgegen.
„Nicht alle Dinoraner sind begeistert darüber, dass sich Tandhener auf Amber befinden. Und in Tamweld hat man ganz besonders etwas gegen die hellen Hünen aus dem Norden, die immer nur morden und plündern. Sie würden es lieber sehen, wenn niemand mehr ihr Leben stören würde. Deshalb gibt es Gruppen von Menschen, die sich gedungener Mörder bedienen, um jemanden wie dich zu ermorden. Und mich gleich mit, denn ich bin ihnen schon viel zu lange vor die Nase gesetzt worden. Vom König in seiner Familie erzogen habe ich mächtig Schwierigkeiten in Tamweld, aber du bist nun da, um mich zu unterstützen, falls wir das hier überstehen“, sagte er lachend und trieb seinem Pferd die Sporen tiefer in die Flanken. Der Rappe bäumte sich vor Schreck ein wenig auf und wieherte, um dann noch schneller zu galoppieren. Ilari feuerte sein Pferd ebenfalls an und bald hatte er das Gefühl, den Verfolgern zu entkommen. Doch ganz ließen diese sich nicht abschütteln und so erreichten sie nach zwei anstrengenden Tagen Tamweld, die goldene Stadt König Bornwulfs.
Ilari hielt sein Pferd für einen Augenblick lang an und blickte auf die Stadt, die unter ihm an einem Fluss lag, wie er vorher noch keinen gesehen hatte. Wasser war ihm nicht fremd, aber die Tansa, die sich an der Stadt vorbeischlängelte, war in ihren Ausmaßen gewaltig. Die Stadt lag ruhig vor ihnen. Die weißen, schweren Mauern, die sie umgaben, schützten einen funkelnden Juwel, wie es schien. Die Dächer der strahlend weißen Stadt schienen mit Gold bemalt zu sein und glänzten und glitzerten in seinen Augen. Ilari staunte und Oskar, der neben ihm anhielt, sah das Staunen des Fremden mit großer Freude. Er war stolz auf seine Heimatstadt, die jeden Gast beim ersten Anblick in Staunen versetzte. Er wusste, was Ilari wissen wollte.
„Die Dachziegeln der Stadt sind mit feinem Blattgold überzogen“, sagte Oskar und bemerkte eine winziges Zucken der Augenbrauen seines Gegenüber.
„Wer kann sich das leisten?“ fragte Ilari atemlos.
„Die Bürger der Stadt sind wohlhabend und bauen gerne hohe bis zu dreistöckige Häuser, wie du sehen kannst, deren Dächer sie mit Gold überziehen lassen, damit sie ihre Pracht schon jedem Fremden von Weiten ankündigen. Und der Königspalast ist sogar an den Fensterläden mit feinem Gold überzogen. Die Sonne scheint länger als in deiner Heimat“, sagte Oskar. „Wahrscheinlich, weil sie das goldene Leuchten unserer Stadt so liebt. Wenn du später durch die breiten Straßenzügen reitest, wirst du kaum eine finstere Ecke finden. Unsere Vorväter haben die Stadt so angelegt, dass die Straßen vom Sonnenlicht bestrahlt werden. Die hellen und weiten Plätze der Stadt sind von hohen Bäumen beschattet, die an den Straßen entlang gepflanzt sind. In ihrem Schatten finden sich die Bürger gerne zusammen. Die weißen, sauberen Häuser reihen sich dicht und schlank aneinander und haben im ersten Stock breite Balkone, die sich der Straße zuwenden. Hinter den Häusern schließen sich geläufige Gärten bis zur Burgmauer an. Vier Tore schaffen Einlass in die goldene Stadt unseres Königs, und inmitten all dieser Schönheit liegt der Palast, der so weiß und rein ist, wie ihn die Götter vor vielen hundert Jahren erbaut haben. So sagt man, aber das ist nur ein Kindermärchen. Doch weitläufig und vierstöckig ist der Palast, der die Bürgerhäuser überragt und von seinem höchsten Turm aus lässt er den Blick über die Stadt und die Tansa bis weit ins Hinterland hinein zu. Der weitläufige Innenhof ist mit Bäumen und kleinen Lauben angelegt und eine stabile Schlossmauer schützt den König in seinem Palast ein weiteres Mal“, sagte Oskar stolz. „Doch nun müssen wir weiter. Du wirst bald die Pracht der Stadt bewundern können, glaube mir. Wenn sie dir nicht gefällt, dann wirst du deinen Kopf zukünftig unter den Arm tragen müssen.“ Er lächelte ein flüchtiges Lächeln und ritt dann wie vom Teufel gepeitscht ins Tal zum nördlichen Stadttor. Wusste er doch, dass ihnen die Verfolger hart auf den Fersen folgten.
„Öffnet uns“, rief Oskar den Männern zu, die auf der Stadtmauer liefen und zu ihnen heruntersahen.
„Wer seid ihr“, fragte einer der Männer unverschämt, der Oskar erkannt haben musste, aber keinerlei Anstalten unternahm, das Stadttor zu öffnen. Oskar bemerkte diese Scharade und ärgerte sich, aber dann wiederholte er seinen Befehl so gelassen wie möglich.
„Öffnet das Tor im Namen unseres Königs Bornwulf. Er hat mich geschickt, um einen Gast abzuholen, doch fremde Reiter bedrohten uns. Macht nun endlich das Tor auf.“
Der Mann schien nachzudenken und gab seinen Leuten einen Befehl. Sie gingen nach unten an das Tor und Ilari hoffte nun verzweifelt, dass sich das Tor endlich öffnete, denn er verstand kein Wort von dem, was gesprochen wurde. Nur dass die Wachen sich zierten, das Tor zu öffnen, begriff er. Doch warum nur?
Die Torwächter öffneten auf Oskars Befehlen nun widerwillig das große nördliche Stadttor, durch das Ilari und seine Begleiter hineinkommen wollten. Es wurde nur bedächtig knarrend aufgeschoben, zwei Handbreit, nicht mehr. Oskar bemerkte es und sah auch die Blicke der Männer, die auf der Mauer verblieben waren und in das Land hineinschauten.
Das alles kam ihnen sehr verdächtig vor, und gerade als sich Oskar überlegte, warum das Tor sich so schwer öffnen ließe, sah er auf eine Horde schwarzer Reiter, die sich ihnen vom freien Feld vor dem Stadttor her näherten. Auch Ilari sah sie und er erschrak, denn er erkannte die gleiche Kleidung wie die der Männer, die ihn überfallen wollten, wenn es nicht sogar dieselben waren. Da sah Ilari, dass sich zu denen, die neu waren, noch die sechs anderen hinzugesellten, die sie verfolgten und sich nun schon fast bei ihnen befanden. Ilari wäre zu gerne in die Stadt hinter das sichere Tor geschlüpft, aber es war beileibe noch nicht weit genug geöffnet. Angst hätte sich nun seiner bemächtigen sollen, aber wie immer blieb Ilari ruhig und konzentriert. Er ergründete seine Möglichkeiten und begriff, dass sie tief im Schlamassel saßen.
Auch Oskar verlor die Geduld, denn er erwartete längst Hilfe aus der Stadt. Ilari, der den blonden jungen Mann ansah, bemerkte, wie sich Oskars Leib plötzlich straffte und dieser verstohlen fester in die Zügel seines Pferdes griff. Jetzt wurde Ilari doppelt unruhig. Er griff unwillkürlich an den Griff seines Schwertes. Als er den Schwertgriff in seiner Hand spürte, blickte er wieder auf Oskar und er entdeckte entsetzt, dass der junge Tandhener kein Schwert trug. Das ließ für einen Augenblick Ilaris Knie weich werden, denn das Stadttor hatte sich bisher um kaum mehr als zwei Handbreit geöffnet. Das Dutzend dunkler Boten hatte sie fast erreicht, sprang wie auf ein unsichtbares Kommando schweigend von den Pferden und stürzte entschlossen auf Ilari und Oskar zu. Oskar bemerkte die Gefahr und glitt hastig aus dem Sattel.
“Steig ab, Ilari, und komm an das Stadttor“, rief er Ilari knapp zu, aber Ilari war schon ganz instinktiv auf dem Weg dorthin. Noch bevor Oskar seinen Satz beendet hatte, stand er mit ihm an der schmalen Toröffnung, die sich aber trotz ihrer gemeinsamen Anstrengung nicht weiter aufdrücken ließ, so als wären die Torwächter auf der anderen Seite fest entschlossen, sie nicht hereinzulassen. Ilaris Gedanken überstürzten sich. Da merkte er, wie ihm Oskar blitzschnell das Schwert entriss, sich vor ihn stellte und seine ganze Kraft aufwand, ihn durch den schmalen Einlass des schweren Tors zu drängen. Oskar hob das Schwert den unentschlossenen Männern entgegen. Die dunklen Reiter zögerten noch. Keiner schien zu wissen, was als Nächstes geschähe. Da rannte Oskar mit dem Schwert nach vorne auf die Verfolger zu. Er fuchtelte wie wild damit herum und Ilari bemerkte, dass Oskar wenig Erfahrung mit dem Schwert zu haben schien, aber er handhabte es auf eine natürliche und furchteinflößende Weise. Das schien die Reiter zu beeindrucken, auch weil sie den Mut in seinen Augen sahen, der ihn antrieb. So hielten sie Abstand und warteten ab.
„Jedem, der hier an mir vorbei will, kürze ich seinen Kopf. Ihr habt nur den einen, den ihr zu Markte tragen könnt“, stellte Oskar fast schon lachend fest. „Denkt also gut darüber nach, ob ihr ihn mir wirklich überlassen wollt.“ Weil sich immer noch keiner rührte, trat er entschlossen einen kurzen Schritt nach vorne, um seinen Willen zur Tat zu unterstreichen. Immer noch zögerten die dunklen Männer. Der Junge schien seine Sache gut zu machen, denn die Reiter blickten sich blitzschnell an und stürzten wie auf einen schweigenden Befehl zu ihren Pferden. Sie saßen in aller Eile auf und hatten dabei nicht bemerkt, wie ihnen Oskar zügig nachsetzte. Den Letzten, den er erreichen konnte, riss er mit ungeheurer Wucht vom Pferd. Der arme Mann hatte seine Füße noch nicht sicher in den Steigbügeln befestigt. Dann stemmte Oskar ihn zu Boden und hielt ihm lächelnd das Schwert an die Kehle. Die anderen hielten kurz an, zögerten noch einen Augenblick, ihren Freund dem siegessicheren Tandhener zu überlassen, aber angesichts der Torwache, die sich endlich für Oskar entschieden hatte und jetzt johlend aus dem geöffneten Tor stürmte, besannen sie sich eines Besseren. Sie flüchteten, ohne sich noch einmal umzusehen. Die Torwache setzte den Reitern eine Zeitlang nach, bis sie umkehren mussten, denn die Flüchtenden wären außer Reichweite, wie sie behaupteten. Doch es wunderte Ilari, der ihnen zusah. Er war der Meinung, man hätte sich mehr anstrengen können, die flüchtenden Männer doch noch zu erreichen. Was diese Männer aber für das Beste hielten, wusste er nicht und es war im Grunde ganz egal, denn die Wachen eilten ihnen zum Schluss doch noch zur Hilfe, auch wenn sie es nur auf den Befehl des Hauptmannes getan hatten, der eben erschienen war. Doch prägte sich Ilari die Ereignisse ein, als er sicher die goldene Stadt Tamweld betrat.
Zusammen mit Oskar schleiften die Wachen den übermannten schwarzen Boten in die Stadt hinein hinter das Stadttor. Sie verschlossen es fest und Oskar überließ den Gefangenen dem Hauptmann der Wache, Cenhelm Barras.
„Achtet mir gut auf ihn, Cenhelm“, rief Oskar dem älteren Mann zu, der einen gefährlichen Eindruck auf Ilari machte. Der nickte nur und sagte zu Oskar.
„Ich weiß, was ich zu tun habe, ihr müsst mich nicht umständlich an meine Pflichten erinnern. Wenn König Bornwulf den Gefangenen sprechen will, sagt ihm, er ist im Turm untergebracht bei den andern Insassen, nur ein wenig besser bewacht“, knurrte Cenhelm griesgrämig. Dieser dahergelaufene blonde Grünschnabel sollte sich um seine Sachen kümmern. Obwohl er Mut hat, der Kleine, das musste man ihm lassen. Aber an die Anweisungen Bornwulfs hält er sich nicht, dachte Cenhelm mürrisch, denn er hatte gesehen, dass Oskar ein Schwert trug und merkte es sich. Oskar nickte und nahm Ilari am Arm. Er führte ihn zum Palast. Davor gab er ihm schnell sein Schwert wieder und Ilari steckte es dankbar lächelnd in die Scheide, die an seiner rechten Seite baumelte.