Unnas Entscheidung
Ilari preschte über das Land. Er gab seinem Pferd die Sporen, und weil ihm der Ritt nicht schnell genug ging, knirschte er mit den Zähnen. Seit ihn gestern Abend Unna auf die Ebene von Torgan gebeten hatte, zermürbte sich Ilari den Kopf.
Sie würde Bork heiraten, der sie nicht wollte und sie doch zur Frau bekäme. Er hingegen müsste nach Westen ausweichen, ins Ungewisse, nur um der Hochzeit eines Thronfolgers nicht im Weg zu stehen. Das hatte sich König Halfdan Ingvarson fein ausgedacht. Unna schien sich jedoch noch nicht mit dem Gedanken angefreundet zu haben, eine Königin zu werden. Ilari hatte erst gestern in ihren Augen gesehen, dass sie ihn liebte. Er erkannte dies oft, ja stets, wenn sie sich sahen.
Es ging Ilari noch immer nicht schnell genug. Unnas Botschaft zog ihn magisch auf die Ebene. Er trieb sein Pferd an, jagte es mitten hinein in den nahen Wald, obwohl er wusste, dass sein Tempo gefährlich hoch war. Die Bäume würden ihm nicht weichen. Wenn sich Unna jedoch für Bork entschied, dann wollte er lieber hier sein Leben zu verlieren, als nach Amber zu segeln. So beschleunigte er den Galopp, um das Schicksal herauszufordern. Sein Brauner jedoch ritt mit traumwandlerischer Sicherheit durch den Wald, und ehe es sich Ilari überhaupt vorstellen konnte, hatte er die Ebene Torgans erreicht. Freies, weites, ungefährliches Land. Schon vom Waldrand aus hatte man einen gewaltigen Ausblick über die Stadt und das Land. Hierher kamen Ilari und Unna immer, wenn sie das Leben erdrückte. Hier hatten sie sich im letzten Sommer getroffen und sich ihre Liebe gestanden. Und hier waren sie für heute verabredet. Unna hatte ihn gestern Abend aufgefordert zu kommen, weil sie etwas Wichtiges beschlossen hatte, wie sie es ihm angedeutet hatte. Was es war, darüber hatte sie geschwiegen, denn die Wände des Palastes hätten Ohren, hatte sie behauptet und ihn unverrichteter Dinge im Gang stehen gelassen.
Ilari stieg von seinem Pferd und wollte nicht schon wieder darüber nachdenken. Die ganze Nacht hielten ihn seine Gedanken wach. Sein Herz schlug wild vom gefährlichen Ritt. Er war entsetzt, wie ihn die Sehnsucht nach Unna so ungestüm werden ließ. Er band den Braunen an einen Ast, damit er still stand und sich erholte. Es war ein teuflischer Ritt gewesen, den er ihm zugemutet hatte, und dabei war er nicht mehr der Jüngste. Ilari klopfte dem Pferd dankbar den Hals und wollte sich umdrehen, als ihm die Augen zugehalten wurden. Er kannte diese Hände. Sie rochen nach Rosenwasser, wie es Unna benutzte. Er nahm ihre Hände von seinen Augen und dreht sich zu ihr um. Ohne dass er es verhindern konnte, lagen sie sich in den Armen. Sie genossen die Berührung und fühlten sich seltsam zeitlos und vereint.
„Bleib, Ilari“, hörte sie ihn bitten. Aber gerade als er ihr antworten wollte, verschloss sie ihm den Mund mit ihrer Hand. Er stand vor ihr und nickte leise. Diesen Wunsch würde er ihr nicht verweigern. Nichts lieber als das, dachte er und wartete darauf, was sie ihm sagen wollte.
„Ich will nicht Königin werden, Geliebter. Mein Vater wird es begreifen, wenn ich es ihm sage. Er wird mir die Ehe mit dir erlauben. Soll sich Halfdan eine andere Königin für seinen Sohn suchen. Ich will ihn nicht, den verrückten Thronfolger. Deine Kinder, Ilari, will ich großziehen, nicht seine, auch wenn sie keiner Linie von Königen entstammen.“
Sie blickte ihm zufrieden in die Augen, schwieg wieder und schmiegte sich an ihn. Ilari, der eben noch das Ende seines Lebens vor sich gesehen hatte, schöpfte Hoffnung. Er wusste, Olaf würde seine Tochter nicht verschachern. Wenn Unna sich entschieden hatte, dann würde er sich ihr nicht verweigern.
„Gleich heute werde ich meinen Vater bitten, bei Olaf in meinem Namen um deine Hand anzuhalten. Der Brautpreis ist sicher hoch. Aber es geht hier um dich, die Tochter des größten Jarls der nördlichen Länder. Vater wird an Macht gewinnen und die Familie wird durch dich im Ansehen steigen. Vielleicht wäre dann Vater sogar in der Lage, nicht mehr in Halfdans Diensten zu stehen.“
Unna nickte bei jedem seiner Argumente und diese wundervollen Gedanken verwirbelten sich in Ilaris Kopf. Er hielt Unna immer noch glücklich in den Armen. Er war zu nichts mehr gezwungen. Sein Leben breitete sich vor ihm aus und ließ keinen Wunsch offen. Er sah Unna in die Augen und erkannte, wie seine Liebe von ihr erwidert wurde. Er neigte sich zu ihr und wollte sie küssen, als sich eine gemeine, näselnde Stimme hinter ihnen erhob.
„Lass das besser, Dummkopf. Du niederer Adelspross solltest die zukünftige Königin Norgans nicht küssen“, tönte Borks hohe Stimme über die Ebene. Hinter ihm standen zehn Männer mit gezückten Schwertern. Ilaris Miene verfinsterte sich. Natürlich ist er nicht alleine gekommen, der Feigling. Gleich zehn Männer hatte er dabei. Er musterte sie eindringlich und las in ihren Gesichtern den Befehl, den ihnen Bork gegeben hatte. Ilari griff nach seinem Schwert, doch er ließ es noch stecken.
Unna schreckte hoch, weil sie begriff, dass Borks Spione sie gestern im Gang des Palastes belauscht hatten. Dabei waren sie so vorsichtig gewesen. Sie drehte sich zu Bork um, trat einen Schritt auf ihn zu, sah ihm böse in die Augen und wirkte, als wollte sie ihm auf der Stelle das Gesicht zerkratzen.
„Sieh an, sie hat mehr Temperament, als ich vermutet hatte. Dann habe ich doch noch Aussicht auf beglückende Nächte“, sagte Bork und trat auf Unna zu, um ihre Hand zu ergreifen. Doch Unna war eine stolze Frau. Sie ließ es nicht zu, dass er sie berührte. Stattdessen holte sie aus, um Bork mitten ins Gesicht zu schlagen. Doch er war schneller, parierte den Schlag und griff sie so fest am Handgelenk, dass sie leise aufschrie vor Schmerz.
Da hielt sich Ilari nicht länger zurück. Ohne ein Wort zu sagen, verfinsterten sich seine Augen. Er zog sein Schwert und stürzte sich auf Bork. Doch er kam nicht weit. Ehe er Bork erreicht hatte, stellten sich ihm die Wachen in den Weg und ergriffen ihn. Borks Feigheit war Ilari unerträglich.
Als Ilari außer Gefecht gesetzt war, trat Bork aus den Reihen seiner Männer zu ihm heran und hielt ihm einen funkelnden Dolch an die Kehle. Dabei grinste er überheblich.
„Was willst du nun tun, Dummkopf. Ein fester Schnitt und dein Leben ist dahin. Willst du immer noch Unna zur Frau nehmen? Dann sage es und du bist tot“, warf ihm Bork abfällig entgegen.
„Du bist immer noch das Schwein, das ich seit meiner Kindheit kenne“, presste Ilari zwischen seinen Lippen hervor, nicht gewillt, auch nur einen Moment nachzugeben. Bork lachte aus vollem Hals. Er kannte Ilaris Halsstarrigkeit und wusste, er müsste den Freund gleich töten.
„Gib nach Ilari, sonst werde ich dich töten. Meine Männer lassen dich verschwinden und jeder hat nach kurzer Zeit deinen Namen vergessen“, sagte Bork nachdenklich und mit einem Blick, der Ilari verriet, dass ihm dieser Gedanke gefiel. Es gab keinen Zweifel, Ilaris Leben hing an einem seidenen Faden.
„Ilari, sag ihm, was er hören will, sonst nimmt er dir das Leben“, rief Unna erschrocken aus. Sie kannte Borks verschlagenen Charakter und fürchtete um Ilari. Sie bedauerte es zutiefst, ihn hierher gebeten zu haben.
Doch Ilari hatte nicht vor nachzugeben. Eher wollte er sterben, als Unna Bork zu überlassen.
„Nichts werde ich ihm sagen. Dieses verdammte Schwein soll sich noch auf einiges gefasst machen“, knurrte Ilari und sein Blick wurde noch finsterer als zuvor. Bork grinste breiter, und als Ilari versuchte sich zu befreien, setzte er den Dolch fester an Ilaris Kehle. Er ritze die Haut mit dem kalten Stahl und Blut floss. Jetzt war sich Unna ganz sicher, dass es Bork ernst war. Er, der Ilari seit jeher hasste, weil er mutiger, freundlicher und geradliniger in seinem Verhalten war, sah nun die Gelegenheit, ihn endlich loszuwerden. Die Freundschaft, die beide über die Jahre getragen hatte, erlosch in diesem Kampf um die Frau, die Ilari mehr liebte als sein Leben und die Bork nur besitzen wollte, um Ilari zu demütigen. Bork freute sich, wusste er doch, dass Ilari nicht von Unna lassen würde. Er grinste ein letzte Mal und setzte zum Schnitt an, als Unna ihm unterbrach.
„Ich will Ilari nicht zum Mann haben. Hörst du, Bork, ich will ihn nicht. Er soll nach Westen fahren in dieses Amber. Dort wird er wahrscheinlich von den Feinden der Eindringlinge dahingestreckt und kehrt nie wieder. Ich will ihn nicht mehr, hörst du?“, sagte sie mit ersterbender Stimme und Bork sah einen kurzen Moment auf Unna. Er fragte sich, ob sie dabei bliebe, wenn er Ilari freilassen würde und entschied, es wäre auf jeden Fall sicherer, Ilari zu töten. Die Vorteile lagen in jedem Fall auf seiner Seite. Dabei grinste er feige, schüttelte schweigend den Kopf und wollte sein Werk vollenden. Ilari, der wie von Sinnen auf Unna starrte, die sich für Bork entschied, wollte nur noch sterben.
„Tu es endlich, Feigling“, warf Ilari Bork erbost entgegen. „Verstecke dich nicht hinter deinen Männern. Ein einfacher Schnitt und du bist mich los und besitzt die Frau, die dich zum Thronfolger erheben wird. Nur mit ihr kannst du den Thron von Norgan besteigen. Vergiss das nicht.“ Ilari war nur noch Wut und Zorn und hatte schon den Weg ins Jenseits angetreten. Mit seinen Worten wollte er verhindern, dass sich Bork, wenn er ihn getötet hatte, im Größenwahn auch Unnas entledigte. Unna hatte begriffen, wofür Ilari kämpfte. Wie sie kämpfte er für das Leben des anderen.
„Denke nach, Bork!“, begann Unna erneut. „Ich will Ilari nicht mehr haben. Aber ich werde dich nicht heiraten, wenn du Ilari tötest. Dein Vater wird dann nicht dich als Thronfolger einsetzen, sondern deinen jüngeren Bruder Keldan, den das Volk ohnedies viel lieber auf dem Thron von Norgan sähe. Denk nach Bork! Wenn Ilaris Leben dahin ist, werde ich dich nicht heiraten. Selbst wenn du mir mit den Tod drohst. Wenn du Ilari tötest, verdirbst du dir deine ganze Zukunft. Ohne mich wirst du den Thron von Norgan nicht besteigen.“
Unna sah, dass sie mitten ins Schwarze getroffen hatte. Ilari war erleichtert und entsetzt. Bork konnte Unna nicht töten. Er hatte durch ihre Entscheidung keine Wahl mehr. Doch ihm wurde dadurch ein verhasstes Leben aufgezwungen. Vor einigen wenigen Minuten gehörte ihm Unna und nun sollte er zusehen müssen, wie sie einen anderen heiratete. Unna hatte ihr Überleben an eine unsinnige Forderung geknüpft. Sie stieß Ilari damit in die Trostlosigkeit. Ohne Aussicht auf Liebe und ein erfülltes Leben. Er würde in Amber nur einfach vergehen. Er glaubt nicht, Unna auch nur für einen Tag vergessen zu können. Sie, die ihn so sehr liebte, dass sie um seines Lebens willen auf ihn verzichtete und Bork heiratete. Es war verrückt, aber gerade als er verzweifeln wollte, trat Bork einen Schritt zurück und steckte den Dolch ein.
Bork maß Unna mit seinen Augen. Sie wäre nicht das Schlechteste, das er bekommen könnte, und wenn sie ihm nicht mehr gefiel und er einige Erben in die Welt gesetzt hätte, hätte er immer noch seine Konkubine. Ihm lag nichts an Unna. Er drehte sich um und steckte seinen Dolch weg. Dann trat er an Unna heran und flüsterte ihr ins Ohr.
„Du wirst gemeinsam mit mir die Ebene verlassen“, sagte er und zog sie ein wenig dichter zu sich. „Ohne deinen Geliebten Ilari. Erst, wenn wir weg sind, werden meine Männer Ilari freilassen. Du siehst ihn nicht mehr, bevor er abreist. Und wirst mich heiraten. Hast du verstanden, meine Schönheit?“ Unna wich vor Bork zurück. Sie verachtete ihn und ertrug es nicht, ihn so dicht zu spüren. Als er sie scharf ansah, nickte sie nur. Sie sah ein letztes Mal auf Ilari und glaubte, ihre Beine würden versagen. Doch Bork griff sie am Arm und zog sie zu ihrem Pferd.
„Steig auf. Beeile dich. Ich habe diese verliebten Blicke satt. Wenn du so weitermachst, überlege ich es mir vielleicht doch noch anders“, knurrte er sie an und drängte sie, auf ihr Pferd zu steigen. Ilari folgte ihnen mit den Augen und er wusste, er hatte Unna zum letzten Mal gesehen. Bork ritt mit ihr davon, ohne dass sie sich noch ein einziges Mal nach ihm umdrehte. Als wie weg waren, ließen die Wachen Ilari gehen.
„Sie ist es nicht wert“, sagte einer der Männer, der Bork diente, aber ihn verachtete. „Du wirst sie vergessen. Sie hat das schlechtere Los gezogen mit einem Mann wie Bork Halfdanson. Aber sie wird daran nicht zerbrechen. Wir Menschen sind stärker, als wir es wahrhaben wollen. Geh in den Westen und überlebe. Damit machst du sie glücklich.“
Er ging weg und Ilari, der diese Worte nicht hören wollte, die sich aber dennoch in seinen Verstand gruben, wusste, dass er Recht hatte. Als die Männer weggeritten waren und er alleine auf der Ebene stand, besaß Ilari kein Leben mehr. Es endete hier auf der Ebene von Torgan. Er ging zu seinem Pferd, bestieg es und brach auf. Sein Brauner kannte den Weg. Drei Tage später segelte er auf einem Schiff nach Amber, nach Westen, um sein Schicksal anzunehmen, wie es Unna von ihm verlangt hatte.