Leanas Schicksal

Hrodwyn sah Leana zu, die mit zerzausten Haaren das Frauengemach betrat. Leana strich sich schnell den Rock glatt und trat zu Hrodwyn, die sie mit eisigen Blick ansah.
„Was schaust du so finster drein, Schwester“, zischte Leana Hrodwyn an, die von oben herab auf die kleine Schwester sah. Leana versuchte, ihrem durchdringenden Blick standzuhalten, doch wie es immer geschah, wenn die Schwestern sich prüfend gegenüberstanden, verlor Leana das Duell der Augen. Sie senkte schnell den dunklen Blick und beruhigte sich damit, die letzten Stunden das getan zu haben, was ihr gefiel. Sie war den Nachmittag über zusammen mit ihrem Ziehbruder Oskar und dessen bestem Freund Ilari Thorbjörnson im Wald gewesen und hatte sich im Schwertkampf geübt. Leana bekam jetzt noch heiße Wangen, wenn sie an diesen wunderbaren Tag dachte. Was kümmerte sie die Verurteilung Hrodwyns, die niemals etwas falsch machte in den Augen der Mutter. Hrodwyn war in allen Dingen, denen sie sich widmete, perfekt. Mit völliger Hingabe erledigte sie die Aufgaben, die ihr die Mutter stellte und drängte damit Leana, der es schwer fiel, sich mit ihr in der Disziplin der Spindel und des Webrahmen zu messen, jedes Mal in den Schatten. Dort musste sich die jüngere Schwester ihren vorwurfsvollen Blick gefallen lassen, der sie mehr schmerzte als das gnädige Kapitulieren der Mutter vor ihren Fähigkeiten.
„Woher kommst du, Kind“, fragte die Mutter Leana von der Türe her. Königin Eadgyth betrat das Frauengemach und warf einen langen Blick auf die Tochter.
Nicht du auch noch, dachte Leana, die sich innerlich gegen die Vorwürfe der Mutter wappnete. Sie sah auf die Königin, die zusammen mit ihrer Ziehschwester Morwenna den Raum betreten hatte. Morwenna lächelte ihr wohlwollend zu und zeigte auf Leanas Gesicht, in dem sich der Straßenstaub festgesetzt hatte. Leana lächelte zurück und wischte geschwind mit der Hand über die Wange. Ein freundliches Nicken Morwennas bestätigte ihr, dass ihr Gesicht wieder rein war und Eadgyth, die verstohlen beobachtete, wie Morwenna die Schwester unterstützte, verlor ihren Ärger auf Leana. Sie hatte schon von den Dienern gehört, dass sich Leana mit ihrem Ziehbruder Oskar traf, und dass auch Ilari dabei war. Doch was sie mit ihnen tat, verriet ihr niemand. Es konnte nichts Vernünftiges sein, wenn alle so auffällig darüber schwiegen. Aber Eadgyth hatte allzeit Geduld bewiesen mit ihren Kindern. Was Leana auch immer hinter ihrem Rücken tat, sie würde eines Tages vernünftig werden. Doch erst einmal musste sie lernen, die Spindel zu bedienen. Als Eadgyth Leana nun schon zum dritten Mal in diese Aufgabe einwies, entfuhr der Tochter ein tiefer Seufzer.
„Was sträubst du dich gegen die Aufgaben der Frauen, mein Kind?“, fragte Eadgyth stirnrunzelnd und hob das Kinn der Tochter mit der Hand nach oben, um in ihre schwarzen Augen zu blicken, die sich der Mutter immer wieder entzogen.
„Ich kann das nicht, Mutter. Mir wird der Blick trübe, wenn ich auf die Spindel sehe, die sich dreht und dreht. Und die Finger wollen sie nicht halten. Wozu auch“, stieß Leana trotzig hervor. „Es gibt Diener, die diese Arbeit erledigen können. Sie sind geschickt darin und sie freuen sich, wenn sie Arbeit am Hof des Königs von Dinora haben. Ich will das nicht tun. Mich interessieren die Aufgaben der Frauen nicht.“ Leana ließ die Spindel in ihren Rock fallen und schwieg plötzlich, weil sie der abweisende Blick der Mutter gestreift hatte. Hätte ich doch geschwiegen, dachte Leana und wurde rot im Gesicht. Sie war wütend auf Hrodwyn, die sie triumphierend anblickte. Leana konnte ihren Zorn kaum noch zügeln und dachte über ihr Los als Prinzessin nach. Eines Tages käme der Mann herein den ihr die Eltern ausgesucht hatten und hielte um ihre Hand an. Und schon jetzt wusste Leana, dass sie diesem Mann ihre Zustimmung verweigern wollte. Sie würde sich nicht verschachern lassen. Sie würde nur Ilari heiraten, den sie vom ersten Augenblick an in ihr Herz geschlossen hatte.
„Damit du es weißt, Mutter. Ich werde niemals einen Mann nehmen, der mich nicht liebt und den ich nicht liebe. Ich werde mich nicht von euch verheiraten lassen. Lieber lebe ich in Armut und Elend. Das Prinzessinendasein ist mir eh vergällt durch die langweiligen Nachmittagsstunden im Frauengemach.“ Eadgyth stutzte. Eben dieses Worte hatte sie von Leana erwartet. Es geschah alles wie es in der Weissagung des Frühlingsfeuers vorhergesagt wurde. Eadgyth nickte und lächelte der Tochter zu.
„Dann wird es umso nötiger für dich sein, das Weben und Spinnen zu erlernen, damit dein bedauernswerter Mann etwas Ordentliches zur Bekleidung bekommt“, erwiderte Eadgyth kühl und sah in die weit aufgerissenen Augen der Tochter, die sich gerade bewusste machte, was es bedeuten mochte, arm zu sein. Eadgyth wartete ab. Dann sah sie zu ihrer Überraschung, dass Leana wortlos nach der Spindel griff und sich schweigend setzte. Sie drehte die Spindel und war geschickt darin. Eadgyths Verwunderung darüber stand ihr in das Gesicht geschrieben. Leana war in der Lage der unbestechlichen Logik der Mutter zu folgen, auch wenn sie ihr nicht gefiel. Eadgyth brauchte Leana kein weiteres Wort mehr zu sagen, damit sie sich der Frauenarbeit zuzuwendete. Hrodwyn belächelte Leanas plötzlichen Eifer. doch als sie Leana ernst und geduldig vor sich sitzen sah, rasten ihr einige Gedanken durch ihren Kopf.
„Warum tust du das, Schwester?“, fragte sie in die angewachsene Stille hinein. „Wir wissen alle, wie sehr du Frauenarbeit hasst.“ Leana nickte.
„Auch wenn du es dir nicht vorstellen kannst: Wenn ich einen Mann erwähle, der arm ist, werde ich diese Arbeit beherrschen müssen. Nur um mich frei entscheiden zu können füge ich mich. Ich will nicht gezwungen sein, mich den Umständen zu beugen. Wenn du einmal verliebt bist, Hrodwyn wirst du es bemerken, dann schlägt dir dein Herz bis in den Hals hinauf und du gehst mit dem Mann deiner Wahl, und fragst nicht wie weit. Und wenn es sein muss in die Armut. Dann muss ich die Spindel führen können und den Webrahmen plagen. Ich will auf alle Fälle gewappnet sein und nicht den Mann meiner Träume abweisen müssen, nur weil ich nicht die notwendigen Dinge des Lebens erlernt habe.“ Leana entschied, nicht weiter zu sprechen, sondern alles zu lernen, was nötig war, um mit Ilari in den Norden zu ziehen, wenn der Tag käme und er volljährig würde. Dann wollte sie ihm ihre Liebe gestehen. Als Leana so eine Weile ihren Gedanken nachhing, ließ sie die Spindel plötzlich wieder fallen und stand auf. Sie sah der Mutter in die Augen und lächelte sie an, dann stürzte sie auf Eadgyth zu und umarmte sie. Sie grub dabei ihr Gesicht in deren Rock und wurde von der Mutter getröstet wie ein kleines Kind, das sie schon lange nicht mehr war. Und Eadgyth ließ es geschehen. Wusste sie doch um Leanas Liebe zu Ilari, der sich vor einigen Tagen in Morwenna verliebt hatte. Eadgyth hasste das Schicksal, das so unbarmherzig war und mitten in ihre Familie fuhr, wie es ihm gefiel, alles zu Brei stampfte und es ihr als Mutter überließ, die eigenen Kinder zu trösten.
Königin Eadgyth vermutete es wäre nicht Ilari, den Leana zum Manne nehmen würde. Das war ihr schon bei ihrer Geburt angedeutet worden. Einen großen Mann aus der Fremde würde Leana wählen. Einen, der über mehr Macht verfügte, als es Ilari tat. Doch Leana würde von diesem Moment an fern ihrer Heimat leben, in einem Land, das die Menschen nicht betreten durften, das ihrer Tochter aber ewiges Leben schenken würde. Eadgyth war nahe daran zu weinen. Vermisste sie die Tochter doch schon jetzt. Doch als sie Leana in Tränen aufgelöst sah, überließ sie es der Tochter, für beide zu trauern. Der Tag der Tränen käme für Eadgyth noch früh genug. Sie nahm ihr Kind sanft aus ihren Armen und wies sie an, zu ihrer Arbeit zurückzukehren. Leana sollte lernen sich zu beherrschen. Das war noch wichtiger für sie als die Näharbeiten zu erledigen.