Tamweld

Vier Menschenalter vor dem ersten Krieg auf Amber fuhren einige wenige Menschen die Tansa herauf. Sie befuhren den breiten Strom mit ihren schweren Flößen, auf die ihre karge Habe und ihre Tiere festgebunden waren. Als sie eine seichte Furt erkannten, steuerten sie darauf zu und gingen an Land.
Der Ort um die Furt war grün und bewaldet. Weil Adara, die Frau des Anführers nach einigen Stunden in einem hastig aufgestellten Zelt ihren ersten Sohn gebar, gaben sie diesem Ort den Namen Tamweld, was in ihrer Sprache soviel wie „glücklicher Ort“ hieß.
Sie errichteten bis zur Nacht die Zelte der Familien und hieben Pflöcke in die Erde, an die sie die Hunde banden, damit sie nicht davon liefen. Edigar, ihr Anführer, hatte zwei Schwarzbären gesehen, die unweit von ihm im Dickicht des Waldes verschwunden waren. Er fürchtete, die Hunde an die Bären zu verlieren, wenn er sie nicht am Ort sicherte.
Adara besah sich einige Tage später die Gegend und den dichten, dunklen Wald. Sie ging mit Edigar weit in den Wald hinein und endlich bestimmte sie zusammen mit ihrem Sohn und der weisen Frau, die ihr immer beistand, die Stelle, an der die Männer die Bäume fällen sollten. Edigar runzelte die Stirn, denn dieser Ort lag weit entfernt vom Fluss, den sie heraufgefahren waren.
„Warum so weit entfernt vom Ufer, Adara?“, fragte er seine Frau. Adara sah sich um und lächelte wissend.
„Hier wird einmal der Palast der Könige stehen, inmitten einer prächtigen Stadt, die von weißen Mauern mit goldenen Zinnen umsäumt sein wird. Die Menschen werden ein reiches und wohlgefälliges Leben führen, viele Menschenalter nach uns. Doch hier wirst du jetzt ein Haus für unserer Familie errichten, mit festen und starken Mauern. Zwei Stockwerke hoch, damit ich in die Weite sehen kann, wenn die Bäume bis zum Fluss gefällt worden sind“, sagte sie ihrem Mann und damit war ihr Wunsch ihm ein Befehl. Edigar nickte, betrachtete seinen Sohn, der ruhig in den Armen der Mutter lag und schlief. Edigar wusste, dass Adara mit dem zweiten Gesicht gesegnet war. Nur deshalb hatten sie die alte Siedlung verlassen und waren auf ihr Geheiß den Fluss herauf gesegelt. Adara suchte den Ort, an dem die Menschen des Landes Dinora einmal in Frieden leben konnten. Er war nun gefunden, wie es Edigar schien. Er ging zu den Männern und sprach mit ihnen.
„Hier werden wir den Wald roden weit nach Westen hinein und nach Osten. Und noch weiter nach Norden hin, wo sich gerade Adara befindet. Gebt mir den schwarzen Pfahl, damit ich diesen heiligen Ort markieren kann“, bat er seine Männer, die ihm schweigend den schwarzen Pfahl reichten, an dem ihre Siedlung entstehen sollte. Als sie Edigar folgten und er nicht aufhörte zu gehen, blieben die Männer stehen.
„Wie weit nach Norden führst du uns noch, Edigar?“ fragten sie ihn stirnrunzelnd. Sie wären lieber am Fluss geblieben, um ihre Siedlung langsam nach Norden zu vergrößern.
„Sollten wir nicht besser hier in diesen blauen Wäldern das Fällen beginnen. Dicht am Fluss, den wir zur Flucht nutzen können, wenn uns Gefahr aus dem Wald droht?“, wollte Seli wissen, der nicht an die Gabe Adaras glaubte. Er stand unverrücklich im Wald und deshalb zögerten auch die anderen, weiter zu gehen. Edigar verstand. Er musste sie überzeugen. Er überlegte sich gerade die Worte, die dies fertigbringen sollten, als Adara mit ihrem neu geborenen Sohn erschien. Sie stand vor den Männern und hatte die Worte Selis gehört.
„Das ist ein heiliger Ort für uns. Er war es, der mich rief, hierher zu kommen und eine Siedlung zu errichten. Der Weg die Tansa herauf war beschwerlich, doch selbst ich, die hochschwanger war und einen Sohn gebar, meisterte ihn. Mir und meinem Sohn ist nichts geschehen. Und auch euch wird nichts geschehen, denn die Tiere des Waldes wünschen uns kein Unglück. Der Wald ist groß und dicht und bietet ihnen wie uns genügend Platz zum Leben. Damit du das begreifst, Seli, und ihr anderen, die ihr mich so zweifelnd anseht, werde ich es euch beweisen. Seht den schwarzen Bären, der hinter euch steht und euch zweifelnd mustert“, sagte sie ihnen und als die Männer sich umdrehten, blickten sie direkt in die Augen eines riesigen Schwarzbären, der sich auf die Hinterfüße gestellt hatte und die Männer allesamt überragte. Wie zur Salzsäule erstarrt beäugten die veränstigten Männer den Bären, der die Zähne fletschte und die Angst der Menschen roch. Adara ging unbeirrt auf den Bären zu. Sie grüßte ihn, indem sie den Kopf neigte, und legte ihm ihren Sohn vor die Füße. Dann ging sie zurück und wartete ab. Edigar wollte erschrocken auf den Sohn zustürzen, als ihn Adara am Arm zurückhielt. Alle sahen gebannt auf den Bären, der sich auf seine vier Beine stellte und das Kind unter sich verbarg. Er roch an dem Kind und wusste nichts mit ihm anzufangen, als sich ein Schwarm Raben näherte. Sie ließen sich krächzend vor dem Bären nieder und warteten ab. Der Bär trat zurück und Edigar blieb das Herz für Augenblicke stehen. Sah er doch den Bären schon seinen Sohn unter den Pranken zermalmen.
Doch der Bär tänzelte vorsichtig über das Kind hinweg, trat zur Seite und ließ den Schwarm Raben zum Kind fliegen. Achtzehn schwarze Raben gruppierten sich um das Kind und krächzten ein schrilles Lied. Dann flog einer der Raben zu Adara und setze sich auf ihre linke Schulter. Er sah Adara in die Augen und die Frau verstand. Sie trat auf Idalis, ihren Sohn, zu und hob ihn hoch. Sie grüßte ein letztes Mal den Bären, der sich nach Westen davonmachte. Der Schwarm der Raben ließ sich an der Stelle nieder, an dem die Männer begannen, den Wald zu roden.
Hier siedelten die ersten Menschen und im Laufe ihres Lebens rodeten sie den Wald in einer breiten Spur bis zum Fluss. Dort begrub Idalis den Vater, als dieser als hochbetagter Mann glücklich verstarb.
Idalis siedelte als Führer der zweiten Generation der Rabenmenschen und sah staunend, wie schnell die Siedlung wuchs, die zu seinen Zeiten schon ein Ort mit festen Häusern und freien Plätzen war. Die Menschen färbten die Wände und die Mauern weiß mit dem Kalk, den sie in den Höhlen um Tamweld gefunden hatten.
Idalis Sohn Hengar fand als Kind an der Hand seiner Großmutter blinkende Steine, die im seichten Wasser der Furt und der schmalen Nebenflüsse der Tansa funkelten. Als Adara die funkelten Brocken untersuchte, lächelte sie.
„Bring das heute Abend deinem Vater“, sagte sie und setzte sich auf einen Baumstumpf. Sie war alt, älter als alle, die hierher gekommen waren. Sie hatte ihren Mann überlebt und alle die anderen, die mit ihnen die Tansa herauf gefahren waren. Doch jetzt, als Hengar die glitzernden Brocken gefunden hatte, wusste sie, es wäre Zeit, die Grenze zum Tod zu überschreiten.
„Geh schon voraus, Kind“, sagte sie lächelnd zum Enkel, der bemerkte, dass es der Großmutter schlecht ging. Doch Adara lächelte immer noch.
„Geh, mein Junge, bring dem Vater die Steine. Er wird dich dafür loben“, sagte sie zu ihm. Da Hengar dem Vater gerne einen Gefallen tun wollte, lief er los.
„Schicke danach den Vater zu mir, Kind“, hörte er noch, als er schon weit gelaufen war.
Eine Stunde später erreicht Idalis den Ort und sah die Mutter an einen Baumstamm gelehnt auf dem Boden sitzen. Achtzehn schwarze Raben saßen um sie herum und krächzten ein schaurige Lied. Als Idalis den Ring der Raben durchbrach, sah er das letzte freundliche Lächeln der Mutter und nahm ihre Hand. Da fühlte er, wie sie kalt wurde. Sie verließ ihn und Idalis wusste, was er zu tun hatte.
„Die Stadt wird wachsen und wir werden über das Land Dinora herrschen, Mutter. Das verspreche ich dir“, sagte er schnell und verbiss sich die Tränen, die dem, der einen König gezeugt hatte, nicht zustanden. Er nahm die Mutter in die Arme und verabschiedete sich. Drei Tage später wurde sie beerdigt und der Ort, an dem ihr Grab lag, war heilig. Raben schützen ihn und als Hengar herrschte, errichtete er ein Priestergebäude, an dem die Rabenpriesterinnen Adara, ihrer Ersten, gedachten.